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Karikaturen: Gezeichneter Journalismus in Zeiten von Printkrise, Memes und verschärften Kontroversen

Cartoons und Karikaturen gehören zum Journalismus, seit seinen Anfängen. Viele Karikaturist:innen verstehen sich gleichzeitig als Journalist:innen und als Künstler:innen: Als wichtige Partner:innen der Meinungs- und Magazinredaktionen kommentieren sie mit ihren Zeichnungen das Tagesgeschehen. Wie sie tagesaktuell arbeiten und wie sich Printkrise, Social Media und die Polarisierung der öffentlichen Meinung auf ihre Arbeit auswirken, berichten zwei bekannte Zeichner:innen und ein Ressortleiter.

Obwohl Karikaturen und Cartoons immer wieder Kontroversen und Debatten auslösen, nimmt die breite Mehrheit sie meist erst wahr, wenn es um Leben oder Tod geht. Zum Beispiel 2005, als die Veröffentlichung von Mohammed-kritischen Karikaturen des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard weltweit zu Unruhen und Morden führte. Oder 2015, als die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“, das diese Karikaturen nachgedruckt hatte, von Islamisten überfallen wurde – zwölf Menschen starben. Und zuletzt 2020, als der französische Lehrer Samuel Paty von einem Schüler ermordet wurde, nachdem er Mohammed-Karikaturen als Unterrichtsmaterial eingesetzt hatte.

Während Bilder, Karikaturen und Cartoons weltweit rasend schnell über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg geteilt werden, gilt das nicht für die ihnen zugrunde liegenden Konzepte von Humor, Meinungs- oder Kunstfreiheit. Dieses Verständnis beginnt auch in Deutschland zu bröckeln.

Aber nicht nur das zugespitzte gesellschaftliche Klima macht Karikaturist:innen zu schaffen. Sie stehen heute gleich mehrfach unter Druck: durch die wirtschaftliche Krise beim Print, ihrer wichtigsten Publikationsmöglichkeit, durch den Vormarsch der sozialen Medien mit eigenen humoristischen Darstellungsformen wie etwa Memes und nicht zuletzt durch die immer schärfer ausgetragenen Kontroversen über die Freiheit der Meinung und der Kunst.

Zuletzt hatte die internationale Ausgabe der New York Times ihre politischen Karikaturen eingestellt und der Guardian hatte seinen langjährigen Karikaturisten Steve Ball hinauskomplimentiert. In beiden Fällen waren Karikaturen der Auslöser, die wegen ihrer Bildsprache als antisemitisch gelesen werden könnten.

Inhaltliche Kontroversen um Karikaturen

Auch der Berliner Karikaturist Mathias Hühn, der seit 1998 für die taz zeichnet, hat bereits Shitstorms wegen seiner Arbeit erlebt. Durch die Krise bei den Abonnements seien die Zeitungsverlage extrem vorsichtig geworden, was den Abdruck kontroverser Karikaturen angeht, glaubt Hühn. „Karikaturen haben – warum auch immer – nach wie vor ein großes Potenzial, um Leser:innen ,auf die Palme zu bringen‘. Wenn sie das aber nicht hätten und nur noch bloße grafische Schmuckelemente wären, könnte man sie auch ganz draußen lassen. Die taz setzt aber auf Karikaturen“, sagt Hühn.

Mathias Hühn ist seit 1998 freier Karikaturist und Journalist. Ausgezeichnet wurde er u. a. mit dem 1. Preis bei der „Rückblende 2009“, der Publikumspreis beim „Deutschen Karikaturenpreis 2011“, dem 3. Preis bei der „Rückblende 2017“ und 2018 mit dem Karikaturenpreis der deutschen Zeitungen. Foto: frameratemedia.

Zweimal stand Hühn während der letzten Jahre auch selbst im Mittelpunkt öffentlicher Debatten. „Bei einem früheren Gaza-Konflikt hatte ich eine Karikatur zu einem israelischen Angriff auf eine palästinensische Schule gezeichnet. Zuvor hatten israelische Militärangehörige öffentlich gemacht, dass Palästinenser:innen in der Armee als Menschen 2. Klasse betrachtet würden. Eine Journalistin des hessischen Rundfunks bezeichnete mich daraufhin in ihrem Buch als Antisemiten. Das hat mich wirklich geschockt“, berichtet Hühn.

Vor einem Jahr hatte er Verkehrsminister Volker Wissing in einer blauen Uniform mit einem Armband mit dem Autobahnsymbol und der Sprechblase „Wir sind die allerletzte Generation und kleben an jeder Autobahn“ gezeichnet. „Das löste einen Riesen-Shitstorm aus – vonseiten Wissings und der FDP sowie der Bild-Zeitung. ,Wissing als Goebels dargestellt‘ wurde damals getitelt. Dieser Angriff ging allerdings gegen die taz, nicht gegen mich als Zeichner. Die taz entschuldigte sich und nahm die Karikatur offline. Die Chefredaktion hatte sich nicht vor mich gestellt, aber die Fotoredaktion“, erinnert sich der Berliner Karikaturist.

Die Bremer Cartoonistin Miriam Wurster zeichnet für die Süddeutsche Zeitung, Titanic und nd (Neues Deutschland). Auch sie ist sich bewusst, dass pointierte Karikaturen und Cartoons bei den Leser:innen sehr schnell zu starken Emotionen und Cancel-Gedanken führen können. „In den Zeiten der Printkrise sind die Abonnenten natürlich die weiche Flanke der Verlage. Shitstorms wegen kontroverser Artikel oder umstrittener Karikaturen und Cartoons führen schnell zu Abo-Kündigungen. Für die Zeitungen und Zeitschriften ist das – auch bei den Cartoons – immer das Ausreizen des Ermessensspielraums zwischen interessant bleiben wollen, auch Provokantes zulassen und gleichzeitig aufpassen müssen“, sagt Wurster.

Hat sie selbst bereits redaktionelle Eingriffe in ihre Arbeit erlebt? „Nein – wenn es Änderungen gibt, dann nur in Absprache. Das passiert eher selten. Für eine meiner Zeitungen mache ich zur Sicherheit immer erst mal Skizzen, meistens eine oder zwei. Meistens geht alles durch. Sehr selten nicht; dann aber oft, weil die Pointe nicht verstanden wurde und weniger wegen der unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten beim Inhalt“, berichtet sie.

Eingriffe der Redaktion

Auch aus der Sicht von Detlef Esslinger, Ressortleiter Meinung bei der Süddeutschen Zeitung, dienen redaktionelle Interventionen eher der journalistischen Qualität als der Entschärfung politischer Konflikte. Esslinger sieht Karikaturist:innen als „zeichnende Journalisten“. Karikaturen gibt es bei der SZ, seit es die SZ selbst gibt, und Esslinger lässt täglich Karikaturen für seine Meinungsseite anfertigen. „Bei der SZ genießen Karikaturisten dieselbe Freiheit wie Textautoren. Sie sollen ihre individuelle Sichtweise ausdrücken. Gerne auch, indem sie einem geschriebenen Kommentar oder einer anderen Karikatur inhaltlich widersprechen. Wir sind schließlich eine Redaktion und keine Fraktion“, betont Esslinger.

Sieht Karikaturist:innen als „zeichnende Journalisten“: Detlef Esslinger ist seit 1991 Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Dort leitete er schon das Medienressort sowie Seite Drei und jetzt das Meinungsressort. Foto: Niklas Keller/SZ.

Im Idealfall verstünde man den Witz einer Karikatur sofort. Es könne aber natürlich vorkommen, dass eine Zeichnung „zu sehr um die Ecke gedacht ist“, sodass man sie nicht versteht. Oder dass ihr Thema in der SZ einfach noch nicht behandelt worden ist. Auch in diesem Fall würde sie wahrscheinlich nicht funktionieren. „Herkömmliche Kommentare und Karikaturen haben dieselbe Grundvoraussetzung: Sie können ein eingeführtes Thema behandeln, würden aber daran scheitern, selbst ein Thema einzuführen“, sagt Esslinger.

Karikaturen zeichnen als Terminarbeit

Das enge Zusammenspiel zwischen Karikaturist:innen und Journalist:innen führt zu Zeitdruck. Wenn Karikaturist:innen für die Tagespresse produzieren, sind sie Terminarbeiter:innen.

Miriam Wurster hat für ihre politischen Cartoons zwei wichtige regelmäßige wöchentliche Abgaben: dienstags für nd. DerTag und mittwochs für die Meinungsseite der Süddeutschen. Für die Titanic muss sie alle zwei Monate eine Doppelseite liefern.

Zur Vorbereitung schaut sie abends die Fernsehnachrichten und steht an Produktionstagen früh auf, um die Online-Ausgaben der Tageszeitungen zu durchforsten. Auch Kommentare spielen eine wichtige Rolle bei ihrer Themensuche. Wenn sie ein Thema gefunden hat, liest sie sich inhaltlich weiter ein, beginnt aber auch gleichzeitig mit ersten Skizzen. „Die sind sehr wichtig, weil so visuelle Assoziationen entstehen, die mit der reinen Faktenlage gar nicht so viel zu tun haben müssen. Über das persönliche Assoziieren kommt dann oft auch die Komik in die Arbeit“, sagt Wurster.

Auch Mathias Hühn arbeitet unter Termindruck, wenn er dienstags bis 15:30 Uhr eine tagesaktuelle Karikatur für die taz liefern muss. Dort ist er seit 1998 mit seinen Karikaturen auf der Meinungsseite. In der taz veröffentlichen jeden Tag andere Karikaturist:innen.

Hühn beginnt den Dienstagmorgen mit dem Deutschlandradio und informiert sich über die tagesaktuellen Geschehnisse. Dann schaut er, was die Kolleg:innen an dem Tag in der taz publizieren – und auch, was andere Karikaturist:innen veröffentlicht haben.

Danach hat er etwa zwei bis drei Stunden Zeit bis zur Abgabe um halb vier. „Die Hauptarbeit ist die Entwicklung eines witzigen Motivs. Die besten Ideen kommen mir in einer Art von ,Halbdämmer‘. Deshalb gehe ich am Dienstagmorgen erst einmal Spazieren, um diesen Zustand zu erreichen“, sagt Hühn. In seiner persönlichen Erinnerung gibt es seit dem Nuklearunfall von Fukushima 2011 keine Phasen mehr, in denen nichts Dramatisches passierte.

Honorare – und weitere Verdienstmöglichkeiten

Was sind den Printverlagen ihre zeichnenden Kommentator:innen wert?

Hühn, Wurster und viele ihrer Kolleg:innen sind im Verband Cartoon-Lobby e. V. organisiert. Der riet seinen Mitgliedern 2019, „die Tarife der VG Bild-Kunst (Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst) zum Ansatz zu bringen, um realistische und in etwa faire Honorare zu erzielen“.

Mathias Hühn weiß aber auch, dass manche Zeitungen mit 25 bis 35 Euro extrem niedrige Honorare für Karikaturen zahlen. „Normalerweise kann man mit Preisen von 50 bis 150 Euro rechnen“, sagt er.

Miriam Wurster arbeitet für zahlreiche Magazine und Zeitungen, u. a. Titanic, Spiegel online, Charlie Hebdo, Stern und Süddeutsche Zeitung. 2015 wurde sie mit dem Deutschen Karikaturenpreis in Silber ausgezeichnet, 2018 mit dem Karikaturenpreis der deutschen Zeitungen und 2020 mit dem Geflügelten Bleistift in Silber. Foto: Miriam Wurster.

Dabei verschärft die abnehmende Zahl von Publikationsmöglichkeiten auch den Konkurrenzkampf zwischen den freien Karikaturist:innen. „Tatsächlich werden die ,Sendeplätze‘ für Cartoons weniger. Viele Zeitungen lassen sich gleich von mehreren Kolleg:innen Arbeiten liefern und fischen einzelne heraus, die sie dann abdrucken. Das finde ich problematisch“, berichtet Miriam Wurster.

Beide, Wurster und Hühn, haben ihre Arbeiten in der Vergangenheit auch bereits frei angeboten, quasi als syndizierbare Karikaturen. Das hat aber bei beiden nicht recht funktioniert. „Es gibt zwar einzelne Tageszeitungen, die tagesaktuell entscheiden, von wem sie welche Karikatur abnehmen. Die meisten haben aber feste Zeichner:innen oder eben einen Pool von Zeichner:innen, wie die SZ und die taz“, sagt Wurster.

Neben den regelmäßigen politischen Cartoons und Karikaturen für ihre festen Kunden haben beide noch andere Publikationskanäle für sich geöffnet. Wurster hat gerade im Kunstmann Verlag ihr Buch „Schrei mich bitte nicht so an!“ veröffentlicht und zeigt ihre Arbeiten in Ausstellungen, im August zum Beispiel in einer großen Einzelausstellung in der Caricatura Kassel.

Beide zeichnen auch für Unternehmen als Kundschaft, Miriam Wurster etwa für eine Dachdecker-Genossenschaft. Mathias Hühn produziert mit zwei Kolleg:innen gerade ein Cartoonbuch für AIDA Cruises, den großen Kreuzfahrt-Konzern. „Das wird ein Produkt der Unternehmenskommunikation und richtet sich an die Kunden des Unternehmens. Auf uns gestoßen waren die im Greizer SATIRICUM, der größten deutschen Sammlung satirischer Zeichnungen“, berichtet Hühn.

Auch Wettbewerbe und Preisgelder sind potenzielle Erlösquellen. Wichtige Wettbewerbe sind für beide der Deutsche Karikaturenpreis und der Karikaturenpreis der deutschen Zeitungen – bei denen wurden beide bereits mehrmals ausgezeichnet. Ebenfalls prestigeträchtig ist der Deutsche Cartoonpreis der Frankfurter Buchmesse und des Lappan Verlags.

Verdrängen Memes die Karikaturen?

Verstehen jüngere Menschen das Genre Karikatur/Cartoon überhaupt noch? In den von ihnen bevorzugt genutzten sozialen Medien bildet sich mit den Memes ein ganz neues Bild-Text-Format heraus, das ebenfalls Weltgeschehen kommentiert und sich oft viral über Instagram, Facebook, X und andere Plattformen verbreitet. Werden die Memes die Karikaturen verdrängen?

Mathias Hühn sieht Parallelen und auch erste Anzeichen für einen Verdrängungsdruck: „Bei Memes gibt es gezeichnete Elemente und Fotoelemente – die sind also durchaus nicht so weit entfernt von Karikaturen und Cartoons. Trotzdem funktionieren Karikaturen bei jüngeren Menschen nicht so gut wie Memes. Meine beiden Kinder nehmen Memes wahr, Karikaturen weniger“, bestätigt er die These.

Miriam Wurster ist zurückhaltender bezüglich dieser Perspektive. In der breiten Wahrnehmung könne man das zwar vermuten, aber Memes seien eine ganz andere Darstellungsform als gezeichnete Cartoons. „Sie sind eine Art von Instant-Medium, zum schnellen Konsum und zum Weiterwischen auf dem Smartphone geeignet, schnell da, aber auch schnell wieder vergessen. Dagegen sind Cartoons und Karikaturen ein langsameres, aber auch nachhaltigeres Medium“, ist sie überzeugt.

Auch Detlef Esslinger von der SZ sieht Anzeichen dafür, dass jüngere Personen die Karikaturen der SZ durchaus schätzen. „Wenn ich sehe, wie viele Menschen unsere Karikaturen auf unseren Insta-Seiten liken oder wie viele SZ-Karikaturen auf den Facebookseiten der Karikaturisten gelikt werden, habe ich diese Vermutung ganz und gar nicht“, sagt er.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).


Foto: Eberhard Kehrer

Der Autor Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

 

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