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Lost Places in den Medien: Schmaler Grat zwischen Erhalt des Ortes und Erhalt der Geschichte

Lost Places, also vergessene oder verlassene Orte, werden vor allem bei jungen Menschen immer beliebter. Insbesondere auf YouTube ist die Nachfrage nach Lost Places riesig. Dass es aber gerade das Internet und die Medien sind, die zur Zerstörung dieser Orte mit ihrer individuellen Geschichte beitragen, wird dabei wohl immer häufiger vergessen.  Doch wie können Journalisten über Lost Places berichten, ohne diesen zu schaden?

Wenn man von Berichterstattung über Lost Places spricht, lässt sich das Gebiet in zwei Perspektiven differenzieren: Geht es um den Standort, also rein um den lokalen Bezug, oder geht es explizit um den Ort, also um die Gebäude und die Geschichte dahinter. Bei einem Bericht über den Standort ist vor allem die Lage entscheidend. Oftmals handelt es sich dabei um Areale, die zentral in einer Stadt liegen und von Weitem schon gut sichtbar sind. Interessant wird es dann, wenn der Standort mit seinen Gebäuden verändert, also beispielsweise verkauft oder abgerissen werden soll, denn dies hat ja einen direkten Einfluss auf die Umgebung. Im Gegensatz dazu steht der Bericht, der sich mit dem Ort als Objekt beschäftigt. Dabei ist es völlig unerheblich, wo sich der Lost Place befindet. Ob es sich um ein verlassenes Bürogebäude mitten in Berlin oder eine alte Fabrikhalle abseits der Zivilisation im Hunsrück handelt, ist gleichgültig: Entscheidend ist die Story und der Anblick der zurückgelassenen „Places“. Die in Szene gesetzten Orte erhalten online auf YouTube teils millionenfach Aufrufe und um sie herum hat sich eine regelrechte Community aufgebaut.

Lost Places können ein faszinierendes Fotomotiv sein. (Foto: Fabian Holtappels)

Lost Place bleibt Lost Place

Verlassene Orte laden geradezu zu tiefgründiger und investigativer Recherche ein. Warum ist der Ort verlassen, wie war es früher, was ist geblieben? All das und noch viel mehr kann durch eine Recherche herausgefunden werden. Die Vielfalt an Quellen ist dabei riesig: der Eigentümer selbst, die Nachbarn, Dokumente in Archiven, alte Zeitungsartikel oder eben der Ort selbst. Informationen können fast überall gefunden werden – und sie laufen nicht weg. Die Angaben und Aussagen zu einem Lost Place werden sich wohl nur gering verändern, wenn man den Bericht nicht tagesaktuell publiziert. Das öffnet logischerweise Tür für das Konzept des Slow Journalism.

In Zeiten, wo jeder derjenige sein möchte, der die „Breaking News“ als Erstes publiziert hat, geht der Grundgedanke des Journalismus immer mehr verloren: kritisches Hinterfragen, Recherchieren und das Aufdecken von Unklarheiten und teils auch Unwahrheiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lost Place in der Zeit der Recherche das Attribut „lost“ verliert, ist dann doch sehr gering.

Ein Fallbeispiel: das Glaswerk Maltitz

Das wird auch am Beispiel des ehemaligen Glaswerks Maltitz in der Elsteraue, das uns später noch einmal begegnen wird, klar: Wer im Februar 2023 nach dem verlassenen Ort im Dreiländereck von Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt im Internet suchte, fand nur wenig dazu. Bis auf einen Eintrag auf einer Lost-Place-Bilderseite, einem Artikel aus dem lokalen Gemeindeanzeiger von 2013 und dem einer Lokalzeitung aus 2008 gab es online keine Hintergründe oder Informationen über dieses Areal, es war sozusagen vergessen worden.

Wer sich ein wenig mehr mit dem Werk und seiner Geschichte befassen wollte, wurde im Staatsarchiv des Freistaates Sachsen fündig. Viele weitergehende Informationen konnten dann ehemalige Mitarbeiter, die Heimatvereine, teils sogar die Ortsbürgermeister und Anwohner geben. So wurde die gesamte Geschichte mit all ihren noch so kleinen Details aufgedeckt. Seit November 2023 ist im Internet alles zusammengefasst – in einem fast 17.500 Zeichen starken Wikipedia-Artikel. Am verlassenen Zustand des Areals hat sich in den anderthalb Jahren, wie zu erwarten, nichts geändert.

Die Dunkelziffer an Straftaten ist hoch

Wo kein Kläger, da kein Richter. Und einen Kläger, der Klage erheben könnte, haben Lost Places im Regelfall nicht, denn sonst wären sie vermutlich nicht in dem Zustand, in dem sie sich befinden. Und so ist der Nachweis, dass in den Medien publizierte Artikel und Vandalismus an diesen Orten in einem Zusammenhang stehen, nicht einfach. Diese Vermutung wird auch von stichprobenartig angefragten Polizeiinspektionen in Sachsen-Anhalt in Bezug auf verschiedene Lost Places, die in den letzten Jahren mediale Aufmerksamkeit erlangt haben, deutlich: Keine der angesprochenen Polizeidienststellen hat auf diesen Arealen in den abgefragten Zeiträumen Straftaten wie Vandalismus oder Hausfriedensbruch erfasst. Dennoch sind die Orte deutlich sichtbar Opfer von Randalierern geworden.

Dass die Dunkelziffer an Straftaten hoch sein muss, erklärt auch der Journalist Maik Hagen in einem Artikel in der Westdeutschen Zeitung von Juli 2023. In seinem Bericht befasst er sich mit einem verlassenen Hochhaus in Krefeld. Die Polizei Krefeld hat in fünf Jahren lediglich zehn Straftaten erfasst – die Dunkelziffer muss aufgrund der sichtbaren Zerstörung des Hochhauses höher liegen, stellt Hagen fest. Eine tatsächliche Verbindung zwischen medialen Beiträgen und Straftaten festzustellen wird dadurch aber ungemein schwer.

Für unser Fallbeispiel des Glaswerks Maltitz kann eine Verbindung durchaus hergestellt werden – aber nur unter Vorbehalt. Im November 2023 erschien der Wikipedia-Artikel, verbunden mit einem erneuten Aufschwung in der Region. Im April 2024 wurde der Dreiherrenstein, der die Grenzen auf dem Areal des Glaswerkes markiert und 17 Jahre lang unbeschadet überdauert hat, zerstört. Hinzu kamen mehrere Brände, Graffitis und andere Angriffe auf die Gebäude des Werkes. Was nur ein unglücklicher Zufall sein kann, könnte aber auch im Zusammenhang stehen. Am Ende basiert das Ganze nur auf der eigenen Wahrnehmung.

Lost Places werden oft Opfer von Brandstiftung. (Foto: Fabian Holtappels)

Doch nicht lost

Nicht immer aber muss ein Ort, der Lost Place genannt wird, verlassen sein. Der Lokalreporter Arne Grohmann berichtete erst kürzlich in der Braunschweiger Zeitung über einen Ort, der zwar in Online-Foren als verlassen markiert war, es in der Realität aber gar nicht ist.

Die Woltwiescher Hanse-Werke werden seit mehr als zehn Jahren renoviert und zu einer „neuen Lebens- und Arbeitswelt“ umgebaut. Von außen ist das aber bisher nicht unbedingt sichtbar, ganz nach der Redewendung „Don’t judge a book by its cover“. Das hatte zur Folge, dass der Ort auf einem Online-Forum als verlassen eingetragen wurde. Viele Menschen suchten das Werksgelände auf und hinterließen Unmengen an Müll. Erst nach langem Drängen des Eigentümers wurde der Eintrag aus der Liste entfernt.

Was aus Grohmanns Artikel hervorgeht, ist, dass es vor allem solche Auflistungen im Internet sind, die Chaoten anlocken – und diejenigen, die sich an den Urbex Codex halten, in ein schlechtes Licht stellen. Besonders bitter wird es dann, wenn Lokalzeitungen meinen, solche Listen in der Rubrik Tourismus veröffentlichen zu müssen, à la „Die Top 11 Lost Places in deiner Region“. Das gibt den Orten zwar ihre teils verdiente Aufmerksamkeit, verleitet gleichzeitig aber auch Randalierer dazu, dort Vandalismus zu begehen.

Urbex Codex: Standort niemals veröffentlichen!

Wie es den Pressekodex unter Journalisten gibt, gibt es auch einen Urbex Codex unter Urbexern – also den Personen, die sich Lost Places als Hobby regelmäßig anschauen. Bei einer Ausstellung im Kunstzentrum uzwei in Dortmund, die noch bis zum 02.02.2025 geöffnet ist, wird auf genau diese Richtlinien eingegangen. Auf einer großen Tafel stehen diverse Regeln, die beachtet werden sollen, wenn man einen Lost Place betritt. Neben den Punkten, die der eigenen Sicherheit dienen, wie beispielsweise „Wir gehen nicht allein“ oder „Wir nehmen mit“, gibt es vor allem Punkte, die zum Erhalt des Ortes beitragen. Hervorgehoben steht an der Tafel „Standort nicht veröffentlichen“, „Wir zerstören nichts“ und „Wir nehmen nichts mit“.

Maske und Handschuhe dienen der eigenen Sicherheit. (Foto: C. J. Miethke)

Insbesondere das Nicht-Veröffentlichen widerspricht jedoch dem journalistischen Prinzip. Wenn man nicht gerade Lost Place-YouTuber oder Fotograf ist, kommt man um den Bezug zur Lokalität nicht herum. Wie bei gegebenem Anlass trotzdem über diese Orte berichtet werden kann, ohne sie im Internet bloßzustellen, zeigt die Journalistin Maria Barsi in ihrem Artikel über das Glaswerk Maltitz mit dem Titel „Bürger verlangen Einsatz der Gemeinde“ in der Mitteldeutschen Zeitung 2008: Der Name des Geländes fällt nicht einmal, die Tatsache, dass der Ort ein Lost Place, spielt keinerlei Rolle. Es heißt unter anderem „[…] Der Besitzer jener Fläche“. Wer aus der Region kommt, wird durch den Kontext sofort wissen, welches Areal gemeint ist. Außenstehende werden den Artikel wohl nicht mit einem Lost Place in Verbindung bringen und weiter scrollen.

Dass aber auch Artikel mit dem Hinweis auf die verlassene Situation nicht zwingend den Standort preisgeben müssen, zeigt die Reporterin Yvette Meinhardt 2020 am Nachbargelände des Glaswerks, ebenfalls in der Mitteldeutschen Zeitung: Bereits mit dem Titel „Ärger um Müll-Ruine: Warum die alte Industriebrache bei Staschwitz so gefährlich ist“ wird klar, dass es sich hierbei um einen Lost Place handeln muss. Eine Adresse, den Namen der verlassenen Brache oder Bilder, die auf den Standort rückschließen lassen könnten, sucht man vergebens. Und trotzdem wird die Zielgruppe des Artikels, Mitmenschen aus Staschwitz und der Umgebung, mit Sicherheit wissen, welches Areal gemeint ist.

Mit viel Gespür

Die Probleme und Risiken beim Berichten über Lost Places sieht auch Luka Kolanović, freier Fotojournalist aus Vorarlberg in Österreich. Er selbst hat bereits mehrfach Lost Places inszeniert. Er sagt, Berichte über verlassene Orte tragen sehr wohl zu deren Zerstörung bei. Gleichzeitig sieht er aber auch die Schwierigkeit, eine Reportage ohne Nennung des Standorts zu schreiben. Besonders die Hintergrundgeschichte mache solche Orte interessant – und dabei gebe man schließlich, ob man will oder nicht, den Ort mehr oder weniger preis. Die Recherche der notwendigen Informationen sei aber nicht immer einfach: Eigentümer und nahestehende Personen seien oft genervt und reagierten gar nicht erst auf Presseanfragen. Und so bliebe es im Regelfall am Journalisten selbst hängen.

Als Fotojournalist legt Kolanović einen besonderen Wert auf das Motiv. Dabei müsse man mit viel Gespür arbeiten, denn oft sind auf den Arealen und in den Gebäuden Schilder, Dokumente und andere Hinweise auf den tatsächlichen Standort. Diese müssen logischerweise weggelassen werden, erklärt Kolanović weiter. Am Ende sei es ein schmaler Grat bei der Berichterstattung, wo zwischen dem Erhalt des Ortes und dem Erhalt der Geschichte abgewägt werden muss.

Ein riesiger Lost Place auf Malta (Foto: Fabian Holtappels)

Pressekodex als Allheilmittel?

Greift man den Pressekodex unter Berücksichtigung des Urbex Codex noch einmal auf, könnte man eine erste Idee daraus für das Berichten zu Lost Places ableiten. Bei dem Thema Suizid ist es in der Presse ein ungeschriebenes Gesetz, dem Artikel einen entsprechenden Hinweis beizufügen. Dieser macht neben den möglichen Hilfsoptionen auch auf den journalistischen Grundsatz aufmerksam, im Regelfall nicht über dieses Thema zu berichten, damit keine Nachahmer angeregt werden. Was der Journalist Boris Rosenkranz zu diesem Thema 2017 bei Übermedien schrieb, könnte auch als Ansatz für das Berichten über Lost Places verwendet werden: „Aber es gäbe doch wenigstens die Möglichkeit, ihn zwar zu benennen, sich aber sehr zurückzuhalten mit Details oder ausufernder Darstellung.“

Dass sich an den Pressekodex auch nicht alle halten, ist kein Geheimnis. Ein Hinweis am Anfang oder Ende eines Artikels wird die Welt nicht retten, und, viel wahrscheinlicher als das, eher noch als Freifahrtschein für das skrupellose Berichten über solche Orte missbraucht werden.

Fazit

Am Ende liegt es, wie so oft in der heutigen Zeit, in der Verantwortung der Medien, die richtige Balance zwischen Zurückhaltung und Darstellung zu finden. Ein Bericht über einen Lost Place kann sich jedenfalls in vielen Fällen lohnen, denn die Geschichte, die dahintersteckt, ist oft tiefgründiger, als ein erster Blick auf das Gebäude oder das Gelände vermuten lässt. Worauf bei der Berichterstattung aber immer darauf geachtet werden sollte, ist, wie viel vom Lost Place preisgegeben wird.


Foto: Kenny-Lee Richter.

Der Autor Fabian Holtappels arbeitet seit mehreren Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit und kann auf Stationen im Europäischen Parlament, einer Krefelder Werbeagentur, dem Westdeutschen Rundfunk und als Social Media Manager einer Kleinpartei zurückblicken. Neben seinem Journalismus-Studium an der Hochschule Magdeburg-Stendal arbeitet der Autor derzeit im Bereich Social Media für den Stendaler Landrat Patrick Puhlmann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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