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Verzerrte Welt: Wie sich unbewusste Denkfehler in der Berichterstattung vermeiden lassen

Kognitive Verzerrungen sind unbewusste Denkfehler, die jedem Menschen unterlaufen. Sie sind Folge von mentalen Abkürzungen, die bei Rückgriff auf bekannte Muster entstehen und als schnelle Entscheidungshilfen dienen. Drei der häufigsten Verzerrungen sind der Bestätigungsfehler, die Verfügbarkeitsheuristik und der Negativitätsbias. Sie beeinflussen auch den Journalismus auf unterschiedliche Weise. Die vorgestellten praktischen Tipps helfen dagegen.

„Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind“. Der viel zitierte Ausspruch der Schriftstellerin Anaïs Nin trifft aus psychologischer Sicht den Kern der Wahrheit. Jeder Mensch ist von kognitiven Verzerrungen betroffen, die unser Weltbild prägen. Diese unbewussten Denkfehler können dazu führen, dass bestimmte Informationen überbetont und andere ignoriert werden. Gerade im Journalismus – wo Sorgfaltspflicht und Neutralität grundlegende Prinzipien sind – können so bestimmte Sichtweisen verstärkt werden. Wie prägen drei der häufigsten Denkfehler die Berichterstattung im Journalismus und welche Strategien können angewendet werden, um ihre Wirkung zu minimieren?

Es fühlt sich gut an, recht zu haben: der Bestätigungsfehler

Menschen bevorzugen Informationen, die ihre bereits bestehende Ansicht bestätigen. Neue Erkenntnisse werden oft so gesucht und ausgewählt, dass sie den eigenen Erwartungen entsprechen, anstatt objektiv zu sein. Das hat einen einfachen Grund: Das Gefühl, Recht zu haben, erfüllt die menschlichen Bedürfnisse nach Selbstwert und Kontrolle über die Umgebung. Außerdem ist die Verarbeitung neuer Informationen kognitiv anstrengend. In einer neurowissenschaftlichen Studie zeigten Forschende, dass die Verarbeitung von Informationen, die der eigenen Meinung widersprechen, im Gehirn Stress auslöst. Um das zu vermeiden und Energie zu sparen, glauben Menschen deutlich eher an ihre etablierte Weltsicht. Dieser Effekt kann so weit gehen, dass Widerspruch und unpassende Fakten ignoriert werden.

Das hat schon im Alltag Auswirkungen und kann prinzipiell bis zur Entwicklung und Verbreitung von „Fake News“ führen. Aber vor allem Journalistinnen und Journalisten entscheiden in ihrer Funktion als Gatekeeper, welche Belege glaubwürdig erscheinen, welche Quellen interviewt und welche Geschichten letztlich veröffentlicht werden. Wenn Informationen unbewusst so ausgewählt und interpretiert werden, dass die bestehenden Überzeugungen bestätigt werden, kann dies zu einseitiger Berichterstattung führen. Auch aus publizistischer Sicht ist es schwieriger, eine Geschichte zu veröffentlichen, die die Weltsicht der Leserschaft herausfordern würde. Diese wiederum bevorzugt tendenziell Medien, die ihrer Meinung und Einstellung entsprechen und diese verstärken.

    Was können wir als Journalistinnen und Journalisten tun?

  • Die Erwäge-das-Gegenteil“-Strategie verfolgen: Wenn ein Artikel verfasst wird, sollte immer das Gegenteil der Hauptaussage in Erwägung gezogen werden. Stimmen die Alternativen wirklich nicht? Welche Belege gibt es, die die eigene Ansicht widerlegen könnten? Die Rolle des Teufelsadvokats kann eingenommen werden, um die Perspektive zu wechseln und die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Wenn das Gegenteil stimmt und der Straftäter unschuldig ist, welche Fragen würde man stellen, welche Personen interviewen, welche Orte besuchen?
  • Die Filterblase verlassen: Hilfreich ist es, bewusst nach unterschiedlichen Perspektiven und Hintergründen suchen. Algorithmen der sozialen Medien verstärken den Bestätigungsfehler, indem sie Inhalte zeigen, die die eigenen Ansichten stützen. Wer aktiv nach widersprüchlichen Informationen sucht, kann ein ausgewogeneres Bild erhalten.
  • Erwartungen visualisieren: Journalistinnen und Journalisten sind nicht nur bei der Recherche dem Bestätigungsfehler ausgesetzt, auch die Lesenden erinnern sich eher an Informationen, die zum eigenen Weltbild passen. Die New York Times hat aus diesem Grund das Tool „You Draw It“ entworfen. Diese interaktive Visualisierung, die bereits von The Guardian und dem BBC übernommen wurde, ermöglicht es der Leserschaft, das eigene Weltbild zu testen. Durch das Überprüfen der eigenen Erwartungen können Fakten besser verstanden und erinnert werden. In Studien wurde belegt, dass Informationen mit dieser Visualisierung bis zu 25 Prozent besser erinnert werden, als wenn die Fakten allein im Text stehen. Dieses selbst erstellbare Tool kann genutzt werden, um Erklärungen zu verbessern und den Lesenden dazu anregen, das eigene Denken zu hinterfragen.

Die Wahrheit ist einfach: die Verfügbarkeitsheuristik

Informationen, die leicht zugänglich oder besonders auffällig sind, werden überbewertet. Das heißt: Menschen schätzen die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses als höher ein, wenn ihnen schnell ein passendes Beispiel einfällt. So wird seit dem Erscheinen des Horrorfilms „Der weiße Hai“ das Risiko eines Hai-Angriffs meist deutlich überschätzt, obwohl in Wahrheit mehr Menschen durch herabfallende Kokosnüsse sterben. Die menschliche Wahrnehmung ist verzerrt, da die Szene des Haiangriffs deutlich leichter abrufbar ist als Statistiken. Fehlende Fakten werden durch die individuell verfügbaren Informationen ersetzt: können wir uns etwas ohne großen kognitiven Aufwand vorstellen, sehen wir dies als Beweis dafür an, dass es wohl richtig sein muss. Evolutionär bedingt hat diese Heuristik Vorteile, denn das menschliche Gehirn kann mit seiner begrenzten Aufmerksamkeitsspanne nie alle Informationen gleichzeitig verarbeiten. Gründliches Nachdenken und Abwägen kostet Zeit und kognitive Energie. Die Verfügbarkeitsheuristik erleichtert damit seit Urzeiten die Reaktion in überlebenswichtigen Situationen.

Diese gedankliche Abkürzung kann aber zu fehlerhaften Urteilen führen. Gerade im Journalismus herrscht oft Abgabedruck und wenig Zeit für eine ausführliche Recherche. Das fördert den Rückgriff auf die Verfügbarkeitsheuristik: Mit minimalem kognitiven Aufwand werden Schlussfolgerungen schneller vollzogen, die nicht unbedingt stimmen müssen. Außerdem wird gerade über seltene oder emotionale Ereignisse besonders häufig und intensiv berichtet. Die Berichterstattung kann so die Wahrnehmung von Risiken und Bedrohungen verzerren: Flugzeugabstürze oder Terroranschläge werden von der Leserschaft oft als alltäglicher wahrgenommen, als sie es eigentlich sind.

    Was können wir als Journalistinnen und Journalisten tun?

  • Zeit nehmen und Statistiken prüfen: Statt schnell Entscheidungen zu treffen, sollten Journalistinnen und Journalisten auch unter Termindruck genug Zeit einplanen, um alle Fakten zu prüfen und zu reflektieren, ob Informationen möglicherweise überbewertet werden. Ähnlich wie beim Bestätigungsfehler ist es hilfreich, aktiv nach unerwarteten oder gegensätzlichen Beispielen zu suchen, um bereits bestehende Ansichten zu hinterfragen.
  • Im Zusammenhang denken: Um der Verzerrung entgegenzuwirken, sollte die Berichterstattung um Hintergrundinformationen ergänzt werden. Dies kann durch die Einordnung von Ereignissen in größere Zusammenhänge geschehen, wie statistische Vergleiche oder Langzeitanalysen, die die tatsächliche Häufigkeit eines Ereignisses aufzeigen.
  • Vermeiden von Extremen: Statt ausschließlich über Sensationen zu berichten, bieten Themen, die weniger Aufmerksamkeit erregen, ein ausgewogeneres Bild. Dies könnte beispielsweise die Berichterstattung über positive Entwicklungen oder langfristige Trends umfassen.
  • Es einfach halten: Menschen erinnern sich am besten an leicht verständliche Fakten. Durch verständliches und präzises Schreiben wird es den Lesenden vereinfacht, die gewonnen Informationen später abzurufen. Auch Wiederholungen helfen dabei, dass Fakten besser im Gedächtnis bleiben.

Früher war alles besser: der Negativitätsbias

Der Negativitätsbias beschreibt die Tendenz, negative Ereignisse, Informationen oder Erfahrungen stärker zu gewichten und intensiver wahrzunehmen als positive. Psychologische Experimente zeigen, dass negative Reize tiefer verarbeitet werden und daher stärkere emotionale and physiologische Reaktionen auslösen. Evolutionär betrachtet hatte dies einen Vorteil: Wer auf negative Reize wie Gefahrensignale oder Bedrohungen mit Aufmerksamkeit reagierte, konnte schneller weglaufen und überlebte. Ob positive Merkmale, wie die potenzielle Nahrungsquelle, bemerkt wurden, war vergleichsweise weniger gefährlich und nicht direkt überlebensnotwendig. Der Negativitätsbias führt heute immer noch dazu, dass Menschen Negatives schneller bemerken und sich länger daran erinnern, selbst wenn positive Ereignisse häufiger oder ebenso bedeutsam sind.

Im Journalismus ist das nichts Neues: Negative Schlagzeilen funktionieren besser, da die Aufmerksamkeit der Lesenden deutlich höher ist als bei positiven Nachrichten. Dadurch entsteht aber auch eine negativ verzerrte Auswahl, Verarbeitung und Beurteilung von Informationen. Seltenere negative Ereignisse werden meist stärker betont als positive Entwicklungen. Das kann zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führen, indem die Leserschaft glaubt, die Welt sei gefährlicher oder problematischer, als sie tatsächlich ist. Viele Menschen empfinden die Medienberichtserstattung bereits als Darstellung einer „ewigen Dauerkrise“. Außerdem kann dies das Vertrauen in Medien und Institutionen schwächen und negative Emotionen wie Angst oder Pessimismus verstärken.

  Was können wir als Journalistinnen und Journalisten tun?

  • Balance zwischen positiven und negativen Nachrichten halten: Die Realität kann und sollte nicht beschönigt werden. Aber Journalistinnen und Journalisten können darauf achten, für jedes Krisenereignis oder jede schlechte Nachricht auch positive Entwicklungen oder Fortschritte hervorzuheben, um die Berichterstattung fairer und realistischer zu gestalten.
  • Lösungsjournalismus vertreten: Der konstruktive Journalismus, auch Lösungsjournalismus genannt, ist ein Ansatz, der nicht nur Probleme aufzeigt, sondern auch Lösungsansätze und Erfolge beleuchtet, und so den Negativitätsbias entschärfen kann. In der Praxis könnte beispielsweise bei Umweltproblemen nicht nur über die Zerstörung der Natur berichtet werden, sondern auch über Projekte, die positive Veränderungen bewirken.
  • Fakten in den Kontext setzen: Der Negativitätsbias kann ausgeglichen werden, indem der größere Zusammenhang miteinbezogen wird. Beispielsweise könnte bei Berichten über Gewaltverbrechen darauf hingewiesen werden, dass die Kriminalitätsraten in vielen Ländern langfristig sinken, auch wenn einzelne Vorfälle medial viel Aufmerksamkeit erhalten.

Fazit

Alle Menschen sind von kognitiven Verzerrungen betroffen. Um sie zu vermeiden, sollten Journalistinnen und Journalisten bewusst gegensätzliche Informationen suchen, statistische Fakten einordnen und nicht nur Krisen fokussieren, sondern auch positive Entwicklungen beschreiben. Dies schafft eine fairere und realistischere Berichterstattung, die das Vertrauen und Verständnis der Leserschaft stärkt.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)

Quellen:

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Die Autorin Kathrin Boehme arbeitete bereits während ihres Studiums der Psychologie und Verhaltensforschung für Lokalredaktionen der Rheinischen Post. Als wissenschaftliche Assistentin forschte sie zunächst in Trier zu Stressauswirkungen auf das Gedächtnis und danach in Barcelona zu nachhaltigem Konsumverhalten. An der Deutschen Journalisten Akademie (DJA) spezialisierte sie sich auf Wissenschafts– und Klimajournalismus. Seit 2016 ist sie als freie Journalistin tätig.

  1. 09.2024
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