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Hugo Loetschers literarische Reisereflexionen: Rezension zu „So wenig Buchstaben und so viel Welt“

In dem kürzlich erschienenen Sammelband „So wenig Buchstaben und so viel Welt“ finden sich Essays und Reise-Reportagen von Hugo Loetscher zu unterschiedlichsten Destinationen und Themen. So reiste der Schweizer Publizist und Autor nach Arkadien, Angkor und Toledo und beschäftigte sich dabei mit dem argentinischen Tango, einem Weltreich sowie vielen anderen Sachverhalten, die auch den heutigen Reisejournalismus so vielfältig und interessant machen. Entstanden ist dabei eine zwischen zwei Buchdeckel gepresste Geschichtsstunde, die überraschende Abzweigungen nimmt und in ihrem Blick zurück meist erstaunlich aktuell bleibt.

Der Schriftsteller und Journalist schreibt beispielsweise über den Tango – jedoch anders als erwartet. Er zerlegt die Begegnung mit Argentinien in unterschiedliche Teile; er nähert sich dem Land und seiner Kultur über seine Bekanntschaft mit dem Tanz und schlägt eine Brücke zum Gaucho, dem südamerikanischen Pendant des Cowboys. In seinem Text nimmt er auch immer wieder thematisch überraschende Abzweigungen: Der Autor schlägt große Bögen in seinen Reportagen und Essays. Kurz meint man, er habe sich verrannt; doch kehrt er auf wundersam verschlungenen Wegen wieder zu seinem Ursprungsthema zurück. Dabei hat er nicht nur die Leserschaft mit auf eine kulturelle Reise genommen, sondern durch seinen fälschlicherweise als Umweg wahrgenommenen Streifzug noch mehr Wissen transportiert. Und all das, ohne auch nur einen Satz lang zu langweilen.

Globale Welterfahrung wird erlebbar

In seinen literarischen Reisereflexionen, zusammengefasst im Buch „So wenig Buchstaben und so viel Welt“, wird Loetschers globale Welterfahrung erlebbar. Unerschrocken reist der Kosmopolit, der dennoch merkwürdig sesshaft bleibt, in Länder, in denen JournalistInnen nur selten zugelassen werden. So versucht er 1976 ins ehemals portugiesische Timor einzureisen, denn immerhin sagte der indonesische Außenminister Adam Malik damals, Timor stehe der Welt offen. Loetscher will also nach Timor, genauer nach Dili, die heutige Hauptstadt Osttimors. Doch das Unterfangen ist schwierig: Schon in Zürich stellt sich heraus, dass der Name der Stadt in keinem internationalen Flugplan verzeichnet ist. „Als ich wissen wollte, wie denn die Portugiesen selber hinkämen, erfuhr ich, dreimal pro Jahr fährt ein Schiff von Lissabon über Macao, und die Fahrt dauert fünfundvierzig Tage“, wie er im Kapitel „Auf (halbem) Weg nach Timor“, Erstveröffentlichung 1976 im Tages-Anzeiger Magazin, schreibt. Loetscher ist optimistisch. Man werde schon sehen – doch man sah: nichts, denn das Unterfangen scheiterte.

So schwelgt Loetscher im Konjunktiv … sogar bei seinem Nachdenken darüber, was er in Osttimor gesehen hätte und wie er in Timor, was übersetzt Osten bedeutet, also in Osten-Osten, von A nach B gekommen wäre. In seiner Gedankenreise erfährt man mehr vom Land als in manch anderen Reiseberichten. „In Dili hätte ich mich sicher einige Tage aufgehalten. Es ist schließlich die Hauptstadt (…)“ und „es soll dort asphaltierte Straßen geben und ein prächtiges Regierungsgebäude mit Soldaten in einheimischer Tracht davor“. Auch an den Strand   wäre er gefahren und natürlich hätte er das „Hippie Hilton“ besucht, eine aus Ziegeln und Wellblech gebastelte Unterkunft, in der man für einen Dollar eine ganze Woche bleiben konnte. „Auf jeden Fall wäre ich in die Dörfer hinausgefahren, wo die Hütten keine Tür haben. Wenn einer das Haus verlässt, stellt er einen Palmzweig davor, nicht als Einladung für einen Dieb, sondern um mitzuteilen, dass der Eintritt tabu ist, und dieses Tabu heißt hier Pomali.“ Ähnlich wie Gay Talese, der über sein nicht zustande gekommenes Interview mit Frank Sinatra sein legendäres Porträt schrieb, schreibt Loetscher über den verpatzten Timorbesuch.

Viele Hintergründe und Querverweise in den im Buch versammelten Essays und Reportagen müssen für das bessere Gesamtverständnis nachgeschlagen werden. Dennoch: Der Blick zurück ist in Anbetracht so mancher (politischer und gesellschaftlicher) Veränderungen lohnend.

Die Anfänge

Schriftsteller, Journalist und Kosmopolit: Hugo Loetscher (1929–2009) machte in seinen Reisereportagen und Essays seine globale Welterfahrung erlebbar. Foto: Sabine Dreher.

Der 2009 in Zürich verstorbene Hugo Loetscher entstammte einem Haushalt des Arbeitermilieus. In seinem Zuhause gab es nur drei Bücher: einen medizinischen Ratgeber, „Das fleissige Hausmütterchen“ und die obligate Bibel. Trotzdem begann er schon früh mit dem Schreiben, wie er 2002 in einem Interview erzählt: „Bereits in der Volksschule wollte ich Schriftsteller werden – nein, in dem Alter sagt man ,Dichterʻ. Dann erfuhr ich, dass berühmte Leute dabei verhungert sind. Und dachte bei mir: Nein, verhungern will ich nicht, ich will berühmt werden.“ Damit klappte es zu Beginn seiner Schreibkarriere nicht so recht, denn bereits das zweite Buch „Die Kranzflechterin“ (1964) wurde von der Kritik abgelehnt. Später sollte es, laut Loetscher, ein Buch der Frauenemanzipation werden, da darin eine Mutter ein Kind ohne Mann großziehe. Zudem beschrieb der Autor über zehn Seiten Geburt, Fehlgeburt und eine Abtreibung – selten gewählte Themen jener Zeit. Schon früh beweist Loetscher, dass er keine Scheu hat, auch dort hinzusehen, wo sich (vermeintlich) Unschönes verbirgt, und darüber zu schreiben.

Als er 1965 den Dokumentarfilm „Salazar und Portugal“ für das Schweizer Fernsehen (SF) über António de Oliveira Salazars Regime in Portugal drehte, wurde der Streifen kurz vor der Ausstrahlung zurückgezogen. Warum? Weil Loetschers verfasster Begleitkommentar als unpassend empfunden wurde. Die Absetzung begründete das SF so: „Wir waren uns von vornherein bewusst, dass diese Equipe mit einem Beitrag nach Hause kommen würde, der sich unvermeidlicher- und nötigerweise mit der Diktatur des Regimes Salazar auseinandersetzen würde, mit einer Diktatur, welche alle demokratischen Freiheiten missachtet. Es gehört aber auch zu den selbstverständlichen Pflichten einer Information, jede Kritik zu belegen. Umso grösser war unsere Überraschung, dass der Kommentar zum Filmbericht in der ungewöhnlichen Form einer politischen Elegie verfasst war, die sich an den portugiesischen Diktator persönlich richtet und mit den Worten beginnt: ,Ach, Herr Salazarʻ …“ Der Absetzung folgte ein Einreiseverbot für Portugal. Dieses nutzte Loetscher, der mittlerweile Portugiesisch sprach, zu seinen Gunsten und reiste in jene Länder, die historisch mit Portugal verbandelt waren.

Was ist, was fehlt

Auf 480 Seiten komprimiert der Schweizer Diogenes-Verlag, unterstützt von den Herausgebern Jeroen Dewulf und Peter Erismann, die ein Nachwort zu Loetschers Reise-Essays und Reportagen verfasst haben, die Texte des Publizisten und Autors. Den eigentlichen Texten vorangestellt ist Loetschers Essay „Literatur und Journalismus“, der sich einordnend den vorgestellten Disziplinen widmet: „Wie Geschwister, ob Hand in Hand oder feindlich, sie kommen voneinander nicht los (…).“ Der Rest gliedert sich nach Regionen, Kontinenten und Zeiten wie „Antike und andere Antiken“, wo es unter anderem um Angkor, Arkadien und ein einstiges Weltreich geht. Aber auch geografisch wird eingegrenzt in die lusitanische – also portugiesisch beeinflusste – Welt, Afrika, Südamerika, Asien sowie Europa und die Schweiz. Die Kapitel liefern einen Überblick über die behandelten Themen und Länder. So ergibt sich bei den zwischen 1953 bis 2009 entstandenen Texten, die im Buch versammelt sind, keine Ordnung hinsichtlich der Entstehungszeit; einzig die Jahreszahl ist den Überschriften hinzugefügt und bietet einen Anhaltspunkt. Mehrwert bietet neben den Text-, Zitat- und Bildnachweisen auch der schwarzweiße Bildteil, der nicht nur Loetscher auf Reisen und bei der Arbeit zeigt, sondern auch manche Reportage im Layout abbildet.

Die Herausgeber Dewulf und Erismann weisen im Nachwort darauf hin, dass das Reisen für Loetscher weder Eskapismus noch Statement gegen die „Enge“ seiner Schweizer Heimat war, sondern stets Ausdruck einer Suche nach dem Eigenen und dem Fremden gleichermaßen. Das Zurückkehren war geprägt vom Erkennen und dem Sehen aus fremder Perspektive. Davon hätte man gern noch mehr gelesen, denn auf die journalistische Arbeit Loetschers und seine Anfänge als fotografierender Reporter wird nur kurz eingegangen. Auch erschöpfen sich die Informationen zu den ausgewählten Texten im nachgestellten Textnachweis. Erfreulich indes ist der Umstand, dass einige der von Loetscher selbst gemachten Fotografien hier zum ersten Mal publiziert sind und ein geschultes Auge verraten. Dies mag auch an seinen Lehrmeistern liegen: Immerhin hat er mit bekannten sowie (damals noch) weniger bekannten Fotografen wie René Burri, Willy Spiller oder Daniel Schwartz zusammengearbeitet.

Fazit

Mit „So wenig Buchstaben und so viel Welt“ liefert der Diogenes-Verlag eine eindrückliche Schau des großen Schweizer Autors und Publizisten. Die Reise-Essays und Reportagen, gestern wie heute lesenswert, sind erstaunlich aktuell geblieben.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

© Diogenes Verlag

Der Autor Hugo Loetscher (1929 – 2009) wurde mit Romanen wie „Abwässer“ und „Der Immune“ zu einem der bekanntesten Schweizer Schriftsteller und Publizisten. Als Journalist bereiste er regelmäßig Lateinamerika, Südostasien und die USA. Ein besonderes Interesse hatte er immer für das Medium Fotografie. Hugo Loetscher, der in Zürich lebte, war Gastdozent an Universitäten in der Schweiz, den USA, Deutschland und Portugal sowie Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Von 1987 – 1992 übte er das Amt des vierten Präsidenten der Stiftung für die Photographie, heute Fotostiftung Schweiz, aus. 1992 wurde er mit dem Großen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Buchdaten:
Autor: Hugo Loetscher; Titel: So wenig Buchstaben und so viel Welt. Reise-Essays und Reportagen; Preis: 29 € (D) und 29,90 € (A) (Hardcover Broschur); Umfang: 480 Seiten; Erscheinungsjahr: 2024; Verlag: Diogenes Verlag; ISBN: 978-3-257-07276-1

 


Die Rezensentin Carola Leitner, Dr. phil., promovierte 2016 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet(e) als Buchhändlerin, Buchproduzentin, Lektorin und Reise- und Kulturjournalistin. Tätigkeit für den Residenz Verlag, Ueberreuter, Metro Verlag, die Tageszeitung Der Standard oder ORF.at. Sie unterrichtet Journalismus an der FH Wien der WKW sowie Verlagswesen an der Universität in Wien, wo sie derzeit lebt und arbeitet.

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