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Moritz Hürtgens „Der Boulevard des Schreckens“: von der aberwitzigen Recherchereise eines skrupellosen Jungjournalisten

Was ist man bereit, für die eigene Karriere zu riskieren? Diese und andere Fragen stellt sich Martin Kreutzer, angehender Journalist einer Berliner Tageszeitung, im Laufe einer stets irrwitziger werdenden Geschichte, die sich um Vorurteile, Fakten und Fiktion dreht. Ein Romandebüt, das sich selbst nicht ganz ernst nimmt.

Von der großen Geschichte oder dem Sensationsinterview träumen viele Journalisten. Für Martin Kreutzer scheint dieser Traum noch während seines Volontariats in Erfüllung zu gehen. Während einer Redaktionssitzung, bei der er gnadenhalber von seiner Vorgesetzten, die ohnehin wenig von ihm zu halten scheint, mitgenommen wird, gibt er sich großspurig und reißt einen als unmöglich geltenden Auftrag an sich: Er soll für seinen Arbeitgeber, eine rechts angehauchte Berliner Tageszeitung, ein Interview mit dem angesagten Künstler Lukas Moretti führen. Dieser will jedoch mit den Schreiberlingen dieses Blattes nichts zu tun haben. Doch Martin kennt Moretti aus Studienzeiten und hat einen guten Draht zum Künstler – wie er vor versammelter Redaktion vorgibt. Die erste von vielen Lügen, die den Protagonisten im Laufe der Erzählung in einen Strudel aus Wahn und (Halb-)Wahrheiten verstrickt.

Das Interview: der Einstieg in den Abstieg   

Doch der Reihe nach: Aus dem bahnbrechenden Interview mit Moretti, der kurz vor der Premiere seines Performance-Festivals mit dem vielsagenden Titel „Beschwörungen“ steht, wird natürlich nichts. Stattdessen wird Martin unsanft aus den Münchner Proberäumen des Künstlers entfernt. Zuvor allerdings schmäht er den einstigen Kommilitonen noch in einem selbst verfassten Gedicht als Dilettanten, Wirtshausdichter, Trendtrottel, Angeber und vieles mehr.

Aber  seine Vorgesetzte und der Chefredakteur Michels sitzen Martin im Nack­en und verlangen, dass er liefert: Das wichtige Interview muss her. Und nicht erst seit Claas Relotius weiß man, dass so etwas auch ohne den Befragten klappen kann. Der junge Journalist fantasiert sich schreibend das Interview, so wie er es gern geführt hätte, von der Seele und schickt es seinem legendären Chefredakteur, der sich in dem begabten Jungspund wiedererkennt.

Wer nun denkt, in der heutigen digitalisierten Post-Claas-Relotius-Welt ist so ein Fake kaum mehr möglich, irrt … ja, vermutlich würde Juan Moreno, Aufdecker des Systems Relotius, dies anders sehen. Martin bastelt sich seine eigene Wahrheit: „Und selbst wenn Moretti später bestreiten würde, dass er mit ihm, Martin, gesprochen und das Transkript freigegeben habe – dann stünde halt Aussage gegen Aussage.“ Der einfache und ruchlose Plan geht auf. Zudem hat der Protagonist mehr Glück als Verstand, denn noch während er am erfundenen Interview feilt, kommt Moretti unter mysteriösen Umständen zu Tode.

Das falsche Interview kommt beim Chefredakteur gut an und Martin erhält als Folge den Auftrag, sich der Geschichte rund um den toten Künstler anzunehmen. Er reist zum Schauplatz des Todes: nach Kirching, einen Münchner Vorort. In dem seltsam zweigeteilten Ort, der auf unnatürliche Art einer Werbe-Kulisse gleicht, nimmt das Unheil seinen Lauf – und der Roman absurde Züge an.

Überzeichnung und Anleihen

Während der Protagonist Martin die Leserschaft immer wieder mit unbedarften Handlungen überrascht – als Privatperson ebenso wie als Journalist –, setzt der Autor Moritz Hürtgen auf die Holzhammer-Methode. Er überzeichnet seine Figuren stark und spielt mit unterschiedlichsten Klischees. Übertreibungen sind dem Titanic-Chefredakteur nicht fremd.

Natürlich tragen die Männer einer selbst ernannten Bürgerwehr Glatze, Trachtenjanker und Lederhose und eine alte Dame, die jenseits der Neunzig noch als Backwarenverkäuferin arbeitet, selbstredend eine lange Strickjacke. „Tradition statt Terror“ ist auf dem Schild eines Mitglieds der Bürgerwehr von Altkirching zu lesen. Man protestiert gegen den inklusiven Bürgermeister und „Islamistenfreund“, der mit den Nachbarn im verhassten und gefürchteten Neukirching kein Problem zu haben scheint. Doch von dort droht Unheil, wie der Anführer der Bürgerwehr weiß und auch nicht müde wird, laut zu verkünden. Ein Zufall kann es nicht sein, dass sich eben jener als ehemaliger Journalist zu erkennen gibt. Einer, der unbequem gewesen war und daher aus der Medienlandschaft als Mitgestalter entfernt wurde.

Moritz Hürtgen, 1989 in München geboren, brach 2013 sein Germanistikstudium ab, um beim Satiremagazin „Titanic“ als Redakteur zu arbeiten. Seit 2019 ist er dort Chefredakteur. Ab Herbst 2022 wird er sich ausschließlich dem Schreiben von Büchern widmen: Mit dem Kunstmann Verlag hat Hürtgen einen Exklusivvertrag über 20 Titel abgeschlossen. Mit „Der Boulevard des Schreckens“ legt er sein Romandebüt vor. Ebenfalls bei Kunstmann erschienen ist der schräge Gedichtband „Angst vor Lyrik“.

Hürtgen kombiniert krude Verschwörungstheorien, Vorurteile und falsch verstandene Vaterlandsliebe mit den Elementen eines Mysterythrillers und der Satire. Beim Lesen fühlt man sich immer wieder an Felix Mitterers „Piefke Saga“ erinnert. Hürtgen nennt zwar Elfriede Jelinek, Stefanie Sargnagel und Thomas Bernhard als seine bevorzugten österreichischen Autoren, aber der Vergleich liegt nahe. Denn während Altkirching für Mitterers friedlich traditionsverbundenes Tirol stehen kann, ist Neukirching mit Mitterers Deutschland, in dem Gewalt und Kriminalität herrschen, gleichzusetzen. Doch die überraschende Auflösung am Ende erinnert mehr an Stephen King. Ein weiterer gern von Hürtgen gelesener Autor.

Kritik

Hinter der Geschichte des jungen Mannes, der mit allen Mitteln ganz nach oben will, versteckt sich einiges an Kritik. Kritik an der Gesellschaft, der Politik und ihrer Vetternwirtschaft sowie dem Journalismusbetrieb und dem Druck, dem es standzuhalten gilt.

Der offen koksende Chefredakteur, der einst ein Interview mit Bin Laden geführt haben will, unterhält sein Redaktionsteam mit derben und politisch unkorrekten Witzen, über die brav gelacht wird. Reportagen sollen hübsch „ausgeschmückt“ werden und überhaupt ist der Umgang mit den eingereichten Artikeln im Berliner Verlagshaus, in dem Kreutzer arbeitet, nicht unproblematisch.

Das Buch thematisiert zudem die gesellschaftliche Spaltung des durch ein Bahngleis zweigeteilten Kirchings. Im ur-bayrischen Ortsteil Altkirching wird die Tradition hochgehalten: Die Damen sitzen im Dirndl züchtig in der Kirchenbank, während der Pfarrer (einer von den guten Ausländern) eine Teufelsaustreibung vornimmt. Und die lederbehosten Männer halten sich am Feuerwehrfest klassisch auf Bierbänken am Maßkrug fest. Wie es im anderen Ortsteil aussieht, erfährt man als Leser:in spät, denn Martin Kreutzer ist ein seltsamer Journalist. Auf die Idee, seine Recherche auf den als gefährlich geltenden Ortsteil auszuweiten, kommt er erst gegen Ende des Buches. Auch als sich der ihm beigestellte Fotograf immer wieder verspätet, schafft es Kreutzer nicht, die Bildebene selbst zu gestalten und die mysteriöser werdenden Vorkommnisse zu dokumentieren. Vielleicht ist er aber auch zu abgelenkt von den beiden prägenden Frauenfiguren.

Die locker eingewebte Beinahe-Lovestory mit einer Spiegel-Redakteurin wirkt allerdings etwas hölzern und aufgesetzt – oder ist dies vom Autor beabsichtigt? Denn immerhin zweifelt der Jungjournalist im Verlauf der Handlung zusehends am eigenen Verstand. Je verwirrender die Handlung, desto fahriger der Protagonist. Der Leser verliert ebenso wie Martin den Überblick über die Geschehnisse und versucht, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden.

Jagdfieber und Fährtenleger

Ein junger Journalist auf der Jagd nach einer guten Story – das ist die Rahmenhandlung. Doch auch der Autor selbst ist, während er sich der spannungsgeladenen Story hingibt, auf der Jagd – nur ist die avisierte Beute nicht immer klar als solche erkennbar.

Fast meint man, es handle sich um den Leser, den es zum einen zu verwirren und auf falsche Fährten zu locken gilt. Zum anderen wechselt der Autor die Genres: Der Roman wandelt sich schnell zum Krimi, der satirische Züge annimmt, bis schlussendlich so manches Detail ins Mysteriöse kippt. Geschickt baut er verwunderliche Elemente wie fliegende Fische oder die bedrohlich-reale Möglichkeit islamistischen Terrors ein, die so gar nicht zum Milieu der traditionsbewussten und Lederhosen tragenden Altkirchingern passen. Doch das fulminante Crescendo am Ende kann sich sehen lassen und kommt mit einem Tusch, der ganz ohne die Altkirchinger Blaskapelle laut ist.

Eine verkommene Branche

Skrupel lässt der Protagonist, der sich mithilfe einer dreisten Lüge aus dem Volontariatssumpf zieht, kaum erkennen. Journalistische Grundsätze wie Sorgfalt und Faktentreue sind abgeschafft.

Dennoch überlegt er immer wieder, hinzuschmeißen – doch weniger aus Ehrgefühl oder wiedergefundener Integrität, nein, es scheint einzig der Druck seines wackeligen Lügengebäudes zu sein, dem er sich entziehen will. Und: Vielleicht kann man ja auch als Brezelbäcker glücklich sein, so die Überlegung. Doch hinschmeißen will nicht nur er, auch der Fotograf schimpft immer wieder über die Branche und bezeichnet diese als „verkommen“ und „kaputt. (…) Moralisch am Nullpunkt!“.

In der Kritik stehen die Medienvertreter aber auch bei der Bevölkerung, alles voran beim Chef der Bürgerwehr: „Die Presse hat uns wieder einmal verraten“, heißt es im Buch. Hier kriegen alle ihr Fett weg. Als das gefälschte Interview im Verlauf der Geschichte anders als gedacht erscheint, ist der Fälscher verärgert. Denn auch mit einem erfundenen Interview wünscht man sich einen sorgsamen Umgang. Chapeau!

Fazit

Ein spannender, ebenso gesellschaftskritischer wie satirischer Roman über einen angehenden Reporter, der sich schnell von den sauberen journalistischen Methoden verabschiedet und auf seiner Recherchereise etwas in Gang setzt, das er nur selbst beenden kann. Während die Hauptfigur durch die Geschichte taumelt, entrollt sich nebenbei ein Mysterythriller mit absurden Elementen, bei denen man als Leser:in oft selbst nicht weiß, was Fakt und was Fiktion ist.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)

 

Autor: Moritz Hürtgen

Titel: Der Boulevard des Schreckens

Preis: 24,- Euro (gebundene Ausgabe)

Umfang: 304 Seiten

Erscheinungsjahr: 2022

Verlag: Kunstmann Verlag

ISBN: 978-3-95614-509-4

 

Die Rezensentin Carola Leitner, Dr. phil., promovierte 2016 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet(e) als Buchhändlerin, Buchproduzentin, Lektorin und Reise- und Kultur-Journalistin. Tätigkeit für den Residenz Verlag, Ueberreuter, Metro Verlag, die Tageszeitung Der Standard und ORF.at. Sie unterrichtet Journalismus an der FHWien der WKW sowie Verlagswesen an der Universität Wien. Sie lebt und arbeitet in Wien.

 

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