Investigativer Journalismus, Teil 2: Die Historie
Das Genre im Portät
Der investigative Journalismus, in den USA zunächst mit dem wenig schmeichelhaften Begriff „Muckraking“ belegt, entwickelte sich vom radikal-politischen Kampf zu einem sachlichen, an Hintergründen interessierten Genre. Den langen Weg vom Anprangern von Missständen bis zur Vertretung öffentlicher Interessen verfolgen Sie hier.
Um zu verstehen, mit welcher Motivation investigative Journalisten arbeiten, hilft ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Genres. Insbesondere in den USA spielt es seit Langem eine bedeutende Rolle.
Die Wurzeln in den USA
Während in Deutschland bis 1945 immer wieder Gesetze zur Pressezensur eingeführt wurden, die eine freie, unabhängige Presse und somit auch die Entwicklung von investigativem Journalismus erschwerten, fehlten in den USA solche Repressionen.1 Dort wandelte sich die Presse schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer Parteipresse zu einer kommerziell orientierten Penny Press, die ihre Verkäufe nicht über eine klare politische Haltung, sondern über sensationalistische Inhalte generierte.2 Für eine möglichst hohe verkäufliche Auflage gaben viele Zeitungen ihre klare politische Orientierung auf und widmeten sich breiteren, gesellschaftlich relevanten Themen, die die Leser über alle Parteigrenzen hinweg ansprechen sollten.3
In diesem Umfeld entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Frühform des investigativen Journalismus, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff „Muckraking“ bekannt wurde. Die Bezeichnung Muckrakers wurde vom damaligen amerikanischen Präsidenten Theodor Roosevelt geprägt. Er adaptierte den Begriff aus dem Buch „Pilgrim’s Progress“ von John Boyan, in dem ein „muckraker“ als ein Mann dargestellt wird, der den Blick stets auf den Boden gerichtet hält und so nur den Dreck wahrnimmt, den er mit seiner Mistgabel beseitigen muss.4 Ähnlich dem literarischen Namensvetter richteten auch die Muckraker-Journalisten ihren Blick nach unten und berichteten über gesellschaftliche Missstände, soziale Probleme der Unterschichten, die Behandlung und Ausbeutung der Arbeiterklasse oder das Fehlverhalten von Konzernen und Politikern.
Die fortschreitende Industrialisierung sowie der Ausbau der Infrastruktur führten dazu, dass Zeitungen erstmals national vertrieben werden konnten. Aufgrund der dadurch deutlich erhöhten Reichweite wurde die Wirkung der investigativ recherchierten Artikel vergrößert und die Muckraker konnten erste Reformen anstoßen.5
Der Anfang des 20. Jahrhunderts markierte die Blütezeit des Muckrakings. Die Muckraker verwendeten dabei bereits alle Techniken, die später fester Bestandteil des investigativen Journalismus wurden. Sogar Methoden der verdeckten Recherche wurden in dieser Zeit als wichtiges Instrument etabliert.6
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs endete diese Blütezeit. Als Gründe werden hierfür unteren anderem die Auswirkungen des Krieges, das Ende der progressiven politischen Bewegung, das Greifen der angestoßenen Reformen, die den Muckrakers den „Dreck“ zum Durchwühlen nahmen, sowie Veränderungen im Mediensektor genannt,7 mit jeweils unterschiedlichem Anteil am Niedergang dieser Spielart des frühen investigativen Journalismus.8
Motivation als Unterschied
In Themenwahl und Recherche entsprach Muckraking also bereits dem heutigen investigativen Journalismus. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Genres liegt jedoch in der Motivation der Journalisten. Während ein heutiger investigativer Journalist als objektiver Berichterstatter operiert, der Missstände zwar aufdeckt und öffentlich macht, dabei jedoch nicht politisch agiert, sahen sich die Muckraker als radikale politische Akteure und Reformer ihrer Zeit. Sie verfolgten mit ihrer Berichterstattung eine zum Teil sozialistische Agenda und sahen ihre Recherche und Artikel als Werkzeug, um bestimmte Reformen und Veränderungen durchzusetzen oder doch wenigstens anzustoßen. Ein Muckraker wurde demnach primär von seinen idealistischen Motiven angetrieben.9
Vordergründig bildeten die Muckraker damit das Gegenstück zur Sensationspresse ihrer Zeit, der damals schon vorhandenen Yellow Press, die mit reißerischen Artikeln und immer dramatischeren Skandalen möglichst große Auflagen erzielen wollte. Nicht Idealismus motivierte hier zur Recherche, sondern rein kommerzielles Interesse: gesucht war stets die Geschichte, die sich besser verkaufen ließ als die der Konkurrenz.10
Yellow Press und Muckraking als entgegengesetzt zu definieren, wäre jedoch zu stark vereinfachend. Auch die Muckraker sorgten mit ihren Geschichten für reißenden Absatz der Zeitungen, womit sie „Protest und Profit auf höchst erfolgreiche Weise miteinander zu verknüpfen wußten“11. Auch wenn ihre ursprüngliche Intention darauf abzielte, gesellschaftliche Reformen anzustoßen, rückte diese immer mehr in den Hintergrund. Das „Wühlen im Dreck“ wurde schließlich nicht mehr betrieben, um gesellschaftliche Umbrüche zu erreichen, sondern um irgendetwas zu finden, mit dem die Auflage gesteigert werden konnte. Wie Boventer treffend beschreibt, war „die Aufdeckung der Missstände längst Selbstzweck geworden“12.
Der Neubeginn
Erst in den 1960er-Jahren wurde der investigative Journalismus von einer jüngeren Journalistengeneration wiederbelebt. Erfindungen wie der Fotokopierer förderten das erneute Aufleben des investigativen Journalismus, da so Informanten leichter Material an die recherchierenden Reporter liefern konnten. Insbesondere in Zeitschriften entstand ein neuer Journalismus, der sehr stark auf investigativen Recherchen aufbaute und den Journalisten die benötigten Freiräume dazu gab. Zudem wurden mehrere Non-Profit-Organisationen gegründet, die investigativen Journalismus förderten. In diese Ära fällt auch die Watergate-Affäre, der bis heute wohl berühmteste Fall einer investigativ recherchierten Geschichte rund um die Machenschaften des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon. 13
Die bedeutendste Entwicklung im neuen investigativen Journalismus war jedoch der Fokus auf die Objektivität der Berichterstattung, der den Muckrakers noch gefehlt hatte. Die investigativen Journalisten waren nicht mehr die radikalen Reformer der Jahrhundertwende, sondern konzentrierten sich wieder verstärkt auf politische Themen und Missstände, ohne dabei eine eigene Agenda zu verfolgen. Das Genre bediente damit auch die Bedürfnisse des Publikums nach gut recherchierten, objektiven Informationen über die Machenschaften ihrer Regierung und anderer Autoritäten. Während das Vertrauen in die Politik durch die Watergate-Affäre und den Vietnamkrieg beschädigt wurde, konnte sich investigativer Journalismus in den USA so als Watchdog etablieren, der Autoritäten kontrolliert und Machtmissbrauch oder ähnliche Vergehen offenlegt.14
Investigativer Journalismus in Deutschland
Auch wenn der investigative Journalismus in den 1970er-Jahren wieder etwas in den Hintergrund rückte, blieben die in den Jahren zuvor etablierten Prinzipien unverändert und wurden schließlich auch in Deutschland etabliert.
Nachdem die Presse im Dritten Reich für Propagandazwecke instrumentalisiert worden war, wurde nach 1945 durch die Alliierten der Standard des „objective reportings“ eingeführt.15 Allerdings dauerte es noch bis zur Watergate-Affäre, bis sich auch der deutsche Journalismus ausführlichen investigativen Recherchen widmete. Vor allem die Barschel- und die Flick-Affäre führten zur kritischen Auseinandersetzung mit dem investigativen Journalismus und dessen Methoden. Nachrichtenmagazine wie „Spiegel“ und „Stern“ etablierten sich dabei als (zumindest in Teilen) investigativ arbeitende Medien und konnten sich diesen Ruf bis heute erhalten.16 Im Vergleich zu den USA spielt investigativer Journalismus in Deutschland jedoch nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle.17
Zwischenfazit
Investigativer Journalismus entwickelte sich, um Missstände anzuprangern und gesellschaftliche Veränderungen hervorzurufen, die diese Missstände beheben sollten. Diese Beweggründe sind auch heute noch seine Grundlage, wenn auch mit einer etwas anderen Motivation. Während die Muckrakers subjektive Ziele verfolgten, sehen investigative Journalisten heute ihre Bestimmung im Aufdecken einer objektiven Wahrheit.18
Sie sind damit nicht mehr die treibende Kraft radikaler Reformen, sondern Diener des öffentlichen Interesses. Gerade wenn investigative Journalisten Unwahrheiten oder Missstände in der Gesellschaft aufdecken und zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses machen, kommt die Kontrollfunktion der Medien besonders stark zum Ausdruck. Das hohe Engagement des einzelnen Journalisten darf dabei nicht mit Subjektivität verwechselt werden: Die schwierige Recherche bedarf eines aktiven, engagierten und hoch motivierten Journalisten, der seine Motivation durchaus auch aus einem anwaltschaftlichen Verständnis seines Berufs ziehen kann.19 Der Journalist stellt sich dabei in den Dienst des öffentlichen Interesses, subjektive Ziele treten in den Hintergrund.
In Teil 3 (Veröffentlichung am Montag) der Beitragsserie erfährt der investigative Journalismus eine kritische Betrachtung.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Die Autorin Ann-Kathrin Lindemann studierte von 2007 bis 2010 Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2010 bis 2011 absolvierte sie den Masterstudiengang Science Journalism an der City University London. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Medienpolitik, der Universität Hohenheim. Seit Oktober 2015 Mitarbeiterin im Humboldt-Reloaded-Projekt.
- Cario, I. (2006): Die Deutschland-Ermittler. Investigativer Journalismus und die Methoden der Macher. Berlin, S. 46 ff.; Nagel, L.-M. (2007): Bedingt ermittlungsbereit. Investigativer Journalismus in Deutschland und in den USA, Münster, S. 66 ff. ↩
- Redelfs, M. (1996): Investigative reporting in den USA: Strukturen eines Journalismus der Machtkontrolle, Opladen, S. 41. ↩
- Feldstein, M. (2006): A Muckraking Model: Investigative Reporting Cycles in American History, S. 108 f., in: The Harvard International Journal of Press/Politics, Nr. 2, 11. Jg., S. 105-120. ↩
- Boventer, H. (1994): Muckrakers. Investigativer Journalismus zwischen Anspruch und Wirklichkeit, S. 217, in: Wunden, W. (Hrsg.): Öffentlichkeit und Kommunikationsstruktur. Beiträge zur Medienethik. Band 2, Hamburg, S. 215-230; Feldstein (2006), S. 105 f. ↩
- Feldstein (2006), S. 109. ↩
- Feldstein (2006), S. 109 f.; Nagel (2007), S. 68 f. ↩
- Hofstadter, R. (1955): The Age of Reform: From Bryan to FDR, New York, S. 195 f. ↩
- Feldstein (2006), S. 110. ↩
- Boventer (1994), S. 218; Nagel (2007), S. 69. ↩
- Boventer (1994), S. 217. ↩
- Boventer (1994), S. 218. ↩
- Boventer (1994), S. 218. ↩
- Feldstein (2006), S. 111. ↩
- Feldstein (2006), S. 113 ff. ↩
- Redelfs (1996), S. 41. ↩
- Boventer (1994), S. 226 f. ↩
- Boventer (1994), S. 226 f. ↩
- de Burgh, H. (2005a): Introduction, S. 21ff., in: de Burgh, H. (Hrsg.): Investigative Journalism. Context and Practise, London, S. 3-25. ↩
- Redelfs (1996), S. 42. ↩