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„Journalismus ohne Datenjournalismus wäre heute unvollständig“

Gerade arbeitet er mit Luisa Neubauer an einem Buch über den Klimawandel. Bei ZEIT ONLINE ist er stellvertretender Leiter des Ressorts Daten und Visualisierung. Er hält Vorträge und spricht in Podcasts. Im Interview mit dem Fachjournalist erzählt Christian Endt, warum er Datenjournalismus angehenden Journalist:innen wärmstens empfehlen kann. Wo Herausforderungen für seinen Berufsstand liegen. Und inwiefern Leser:innen von seinen Recherchen profitieren.

Wie erklären Sie, was Datenjournalist:innen machen? Sie werden auf Partys vermutlich oft über Ihren Beruf ausgefragt.

Das stimmt. In einem lauten Club hat mein Gegenüber einmal „Gartenjournalismus“ verstanden – und es hat eine Weile gedauert, aus diesem Missverständnis wieder herauszukommen (lacht).

Die meisten Leute außerhalb der Branche haben das Wort „Datenjournalismus“ noch nie gehört und können sich nichts darunter vorstellen. Aber viele haben schon ein Projekt von uns gesehen. Darüber lässt sich mein Beruf dann ganz gut erklären.

Ich recherchiere zu aktuellen Themen, die journalistisch relevant sind, und versuche, aus großen Datensätzen Thesen dazu zu entwickeln. Dazu suche ich nach Mustern, Zusammenhängen und Trends, die uns die Welt erklären. Nach der Analyse der Daten schreibe ich Texte und arbeite an Visualisierungen. Anders gesagt: Ich wälze die Zahlen so lange hin und her, bis sie eine Geschichte erzählen.

Eines Ihrer letzten Projekte für ZEIT ONLINE beschäftigte sich mit der ungleichen Verteilung von Vermögen in Deutschland. 

Ja, die Daten belegen, dass die reichsten fünf Prozent fast so viel besitzen wie die gesamte restliche Bevölkerung. Das sind ganz simple Zahlen, die aber die wenigsten kennen und die bei vielen Leser:innen starke Emotionen ausgelöst haben. Vor allem, wenn man kurz die Frage antippt, ob sich an dieser Situation vielleicht etwas ändern sollte.

Wie würden Sie jungen Journalist:innen Ihren Beruf schmackhaft machen? Warum ist Datenjournalismus für Sie der schönste Beruf der Welt?

Journalismus ist oft etwas einsam: Man zieht alleine los auf Recherche, schreibt alleine seine Geschichte. Unsere Projekte hingegen sind nicht für einen alleine zu stemmen. Datenjournalismus ist ganz stark Teamarbeit – und ich finde es bereichernd, in unserem etwa zehnköpfigen, interdisziplinären Team zu arbeiten. Neben den Journalist:innen sind in unserem Ressort auch Designer:innen und Programmierer:innen beschäftigt – all diese Gewerke braucht es, um tollen Datenjournalismus machen zu können.

Datenjournalismus ist für mich eine interessante Art, auf die Welt zu blicken. Erst einmal hat man ganz viele Zahlen auf dem Tisch. Daraus dann eine Geschichte zu entwickeln, sich der Frage zu nähern, was diese Daten denn nun eigentlich bedeuten – das ist eine total befriedigende Arbeit.

Für den Journalismus ist es sehr wertvoll, dass man nicht im Anekdotischen bleibt, nicht einzelne Geschichten erzählt oder einzelne Leute befragt, sondern mit den Daten auf große Entwicklungen gucken und beschreiben kann, wie sich das Thema insgesamt in der Gesellschaft darstellt. Andererseits zeigen wir viele Details auf, um ein vollständiges Bild zu zeichnen.

Sie haben Mathematik studiert. Wie sind Sie zum Datenjournalismus gekommen?

Das war ein bisschen eine Schlangenlinie, der ich da gefolgt bin. Nach dem Mathematikstudium wollte ich etwas ganz anderes machen, habe Praktika im journalistischen Bereich absolviert und für diverse Redaktionen geschrieben. Bei der Süddeutschen Zeitung habe ich in München und Berlin volontiert und verschiedene Ressorts durchlaufen. Ich konnte mir unter anderem einen Job in der Wirtschaftsredaktion gut vorstellen.

Durch Zufall habe ich dann den Datenjournalismus für mich entdeckt, der damals bei der SZ gerade als eigenes Thema entstand. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Fähigkeiten da ganz gut einbringen kann. Die Verbindung aus journalistischem Arbeiten – Recherchieren und Schreiben – und dem Blick durch die Datenbrille auf aktuelle gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Fragen, hat mich fasziniert. Zudem war es ein Wachstumsbereich, in dem ich problemlos eine Stelle finden konnte.

Welche Anforderungen werden an einen Datenjournalisten gestellt?

Es braucht die generellen journalistischen Kompetenzen; man sollte sicherlich mit offenem, neugierigen Blick durch die Welt gehen und Dinge kritisch hinterfragen. Datenjournalismus hat selten mit höherer Mathematik zu tun. Mit Grundlagen in Statistik kommt man schon recht weit – und die werden in vielen Studiengängen vermittelt. Informatik und Sozialwissenschaften eignen sich sehr gut; wir haben Absolvent:innen beider Studiengänge in unserem Team, das sind alles super Leute.

Gewisse Programmierkenntnisse zu haben, ist ebenfalls stark von Vorteil. Die meisten Datenjournalist:innen arbeiten mit R oder Python bei der Datenanalyse. Es gibt in der Szene einen halbernsten Dauerstreit darüber, welche der beiden nun die bessere Programmiersprache sei. Ich bekenne mich zum Team R, aber letztlich kann man mit beiden gut arbeiten.

Wie gelangen Sie an Daten?

Auf ganz unterschiedlichen Wegen. Oft bekommen wir sie von Behörden oder aus der Wissenschaft, das sind die häufigsten Quellen. Manchmal von Unternehmen, die sich auf die Arbeit mit Daten spezialisiert haben. Und hin und wieder erheben wir selbst Daten, indem wir Websites scrapen. Dass einem Whisteblower Daten zuspielen, ist selten, aber natürlich besonders spannend.

Inwiefern ist Datenjournalismus investigativ?

Da gibt es sicherlich eine große Schnittmenge. Für investigativen Journalismus bieten sich datenjournalistische Zugänge schon an – insbesondere dann, wenn man vertrauliche Datensätze von Whistleblowern zugespielt bekommt, die man dann auswertet. Viel häufiger ist allerdings die Herangehensweise, selbst nach Daten zu suchen, um Missstände aufzudecken.

Wie muss ich mir die Entstehung eines Artikels auf der Grundlage der gesammelten Daten vorstellen?

Ein ganz wichtiger Teil der datenjournalistischen Arbeit ist, die Geschichte zu finden, für die die Daten stehen. Dafür bereitet man die Daten auf und visualisiert sie in Diagrammen und Grafiken – das ist notwendig, um Muster zu finden.

Wir suchen oft nach zeitlichen Trends: Wann passiert etwas Interessantes, wo gibt es einen Bruch oder eine Veränderung? Man kann auch nach Ausreißern suchen, guckt sich beispielsweise eine Region genauer an, in der Dinge anders laufen als bundesweit. Auch die Suche nach Zusammenhängen ist interessant. Ein Beispiel: Wir haben neulich zur Wählerschaft der AfD recherchiert und festgestellt, dass Wähler dieser Partei sehr häufig Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg haben.

Wie sehr erleichtert Ihnen KI Ihre Arbeit?

Dank automatisierter Prozesse geht die Arbeit heute schneller. Künstliche Intelligenz, KI, ist eine große Hilfe, wenn man beim Programmieren nicht weiterkommt. Auch um große Textmengen zu analysieren, sind KI-Tools sehr hilfreich. Es gibt viele davon, das kann auch ChatGPT sein.

Wir sind total neugierig, wohin sich das entwickelt, und beobachten sehr aufmerksam, was sich damit machen lässt. Ich denke, KI wird unsere Arbeit in den nächsten Jahren deutlich verändern.

Ihre Schwerpunkte sind Energie, Wirtschaft und Klima. Was war ein Highlight für Sie?

Da gibt es viele. Für mich ist es total spannend, die Energiewende zu covern. Das ist für mich seit Längerem ein interessantes Thema, weil es da starke wirtschaftliche und politische Interessen gibt und sehr viele Mythen im Umlauf sind. Die kann ich mit Daten gerade rücken und aufzeigen, wie die tatsächlichen Entwicklungen sind.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht in Deutschland, aber auch weltweit ziemlich schnell voran. Da ist eine Dynamik, die viele noch unterschätzen. Und gleichzeitig können wir dann auch im Detail in den Daten gucken, wo es noch hakt, wo wir noch besser werden müssen.

Sie planen das Programm der SciCAR-Konferenz mit, die am 27. und 28. September 2024 in Dortmund stattfindet. Dort treffen sich Journalist:innen und Wissenschaftler:innen zum interdisziplinären Austausch über Computer Assisted Reporting (CAR). Welche thematischen Schwerpunkte wird es geben?

Vermutlich werden Demokratie und Rechtsextremismus vorrangige Themen sein. In diesem Jahr finden ja die Europawahl, drei wichtige Landtagswahlen in Deutschland sowie die Präsidentschaftswahl in den USA statt.

Die SciCAR ist sozusagen unser Klassentreffen. Da kommt ein ganz großer Teil der datenjournalistischen Community zum Austausch mit vielen Akteur:innen aus der Wissenschaft zusammen, die spannende Daten liefern. Wir wollen überlegen, was man journalistisch mit diesen Daten machen kann und methodisch voneinander lernen. KI spielt dieses Jahr sicher auch eine große Rolle auf der Konferenz.

Wie verbreitet ist Datenjournalismus?

Bei ZEIT ONLINE ist Datenjournalismus ein echter Schwerpunkt. Aber ich beobachte, dass auch kleine Lokalredaktionen zunehmend Spezialist:innen anstellen, die sich auf den Datenjournalismus konzentrieren.

Man kann sicherlich sagen, dass der Datenjournalismus in den letzten zehn Jahren an Bedeutung stark zugenommen hat und viel stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Früher machte man sehr lange Datenrecherchen und kam gelegentlich mit einem großen Projekt heraus. Heute sind Datenjournalist:innen in die tägliche Redaktionsarbeit eingebunden, weil die Leser:innen konstant datenjournalistische Einordnungen zu den größeren aktuellen Themen erwarten.

Was die Leser:innen sehr schätzen ist, dass sie sich durch interaktive Tools in einer Geschichte verorten, das Geschehen bei sich vor Ort einordnen können – einfach, indem sie ihre Postleitzahl eingeben. Einen großen Schub hat der Datenjournalismus durch Corona bekommen. Während der Pandemie herrschte bei allen ein großes Bedürfnis, die aktuellen Zahlen zu haben und die auch aufbereitet, erklärt und eingeordnet zu bekommen.

Wird diese Einordnung durch die oft als Lügenpresse verunglimpften Medien denn überhaupt noch wahrgenommen? Hat die Presse noch diese Gatekeeper-Funktion?

Medien müssen ihre Glaubwürdigkeit mehr denn je unter Beweis stellen. Datenjournalismus kann da ein guter Weg sein. Wir legen großen Wert auf Transparenz: Woher kommen die Daten? Wie gelangen wir zu unseren Erkenntnissen? Die Leser:innen müssen uns nicht glauben, was wir behaupten, sondern können es im Zweifel selbst nachvollziehen.

Vor welchen Herausforderungen steht der Datenjournalismus?

Wir leiden in Deutschland darunter, dass öffentliche Stellen oftmals nicht in der Lage sind, aktuelle, aussagekräftige Daten zu liefern. Das bereitet uns ganz schön Mühe. Oft sehen wir tolle Projekte aus anderen Ländern und würden gerne etwas Ähnliches machen – das scheitert dann aber an der Verfügbarkeit von Daten.

Was ist in anderen Ländern diesbezüglich anders?

Das ist auch eine Kulturfrage. Länder wie Dänemark, Schweden oder die USA haben weniger Bedenken, was Datenschutz anbelangt. Dort gibt es eine größere Transparenz der Behörden der Bevölkerung gegenüber und die Digitalisierung ist weiter fortgeschritten.

Das Problem ist durch die berühmten Faxe, mit der während der Pandemie die Corona-Meldungen an die deutschen Gesundheitsämter weitergegeben wurden, ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Daten, die nicht digital vorliegen, sind dann auch nicht ohne Weiteres zugänglich.

Gibt es genügend Datenjournalist:innen?

Wir haben jedenfalls viel mehr Ideen, als wir umsetzen können und bemerken ein sehr großes Interesse bei den Leser:innen. Ich sehe definitiv das Potenzial, Datenjournalismus noch mehr in der Breite zu tragen.

Liegt im Datenjournalismus also die Zukunft für Journalist:innen?

Eine Zukunft sicherlich. Nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Medienhäusern ist das keine Nische mehr, sondern ein zentraler Bestandteil des journalistischen Angebots. Journalismus ohne Datenjournalismus wäre heute unvollständig.

Das Gespräch führte Ulrike Bremm.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).


Foto: Michael Pfister / ZEIT ONLINE.

Christian Endt, geboren 1989 in Augsburg, volontierte nach seinem Mathematik- und Physikstudium bei der Süddeutschen Zeitung. Er arbeitete dort als Redakteur für Daten- und Grafikprojekte und übernahm 2020 die Leitung des Datenteams. Seit 2021 ist er bei ZEIT ONLINE, seit Juli 2023 als stellvertretender Leiter des Ressorts Daten und Visualisierung. Er recherchiert und schreibt schwerpunktmäßig über Energie, Klima und Wirtschaft. Hier einige Projekte. Gemeinsam mit Luisa Neubauer und Ole Häntzschel veröffentlicht er demnächst das Buch „Der Klima-Atlas. Verblüffende Fakten, ungewöhnliche Grafiken, mutige Zukunftsszenarien: der Klimawandel in 80 Karten“ (erscheint am 13.08.2024 bei Rowohlt). Der Journalist, der in seiner Jugend Rettungsschwimmer des DRK war, ist Schlagzeuger der Punkband Plan B und lebt in Berlin. (Christian Endt auf LinkedIn, Bluesky und Instagram)

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