„Check my facts!“ – Journalistisch arbeiten mit Wikipedia & Co?
Wikimedia Commons und Wikinews, zwei Seitenprojekte von Wikipedia, feierten gerade ihr 20-jähriges Bestehen. Eine gute Gelegenheit, einmal auf die Mehrwerte und Möglichkeiten, aber auch auf die Risiken des journalistischen Arbeitens mit Wikipedia & Co zu blicken.
Als anekdotischer Einstieg ins Thema seien hier die letzten Wikipedia-Suchen des Autors genannt: „Zapruder-Film“ für einen Beitrag über Verschwörungserzählungen; „DALL-E“ für einen Artikel über künstliche Intelligenz; „Erik Möller“ und „Maximilian Schönherr“ auf der Suche nach Interviewpartnern für diesen Beitrag.
Journalist:innen schätzen Wikipedia (WP) – wahrscheinlich. Denn Zahlen zu journalistischen Nutzer:innen und ihren Aktivitäten gibt es keine. Anzunehmen ist aber, dass sie Wikipedia und andere Produkte des Wikiversums so intensiv nutzen und hoch schätzen, wie andere User:innen auch. Der Markenname birgt den Markenkern: Wiki steht auf hawaiisch für „schnell“ und pedia verspricht enzyklopädisches Wissen.
Warum nutzen Journalist:innen Wiki-Produkte?
Fragt man bei Wikipedia Deutschland in Berlin nach Zahlen und Statistiken über Journalist:innen in der Community, bekommt man eine negative Antwort. Franziska Kelch, Ansprechpartnerin Presse und Kommunikationsmanagerin Politische Rahmenbedingungen schreibt: „Da wir keine personalisierten Daten erheben, kann ich Ihnen dazu nichts sagen.“
Vermutlich werden Journalist:innen aber aus klar erkennbaren Gründen mit der freien Wissensdatenbank arbeiten. Wikipedia bietet ihnen einen schnellen Einstieg in unfassbar viele Themen. Zudem sind Wikipedia-Beiträge oft eindrucksvoll umfangreich mit weiterführenden Links und Referenzen „bequellt“ – und deshalb eine wertvolle Startrampe für weitere Recherchen.
Doch sind die Artikel in WP inhaltlich zuverlässig? Bereits 2005 hatte die Fachzeitschrift Nature eine Untersuchung zur Akkuratesse und Fehlerhäufigkeit bei Wikipedia-Artikeln im Vergleich zur Encyclopedia Britannica veröffentlicht und dabei erstaunliche Ergebnisse gefunden. Die Fehlerhäufigkeit unterschied sich kaum. Dabei profitieren Journalist:innen bei Wikipedia vom Crowdsourcing bei der Informationsbeschaffung. Eine große Gemeinschaft von Autor:innen wacht über den Content und hält ihn (im besten Fall) aktuell. Fachartikel wachsen und verjüngen sich gleichzeitig. Zudem ist das Angebot in vielen Sprachen verfügbar, was Recherchen zu internationalen Themen erleichtert.
Nicht zu vergessen: Neben dem Kernprodukt Wikipedia betreibt die Wikimedia Foundation zahlreiche Schwesterprojekte. Vor allem die Mediendatenbank Wikimedia Commons bietet journalistischen Mehrwert.
Wikipedisierung des Journalismus?
Gelegentlich geraten Journalist:innen bei der Arbeit mit Wikimedien aber auch auf gefährliche Irr- und Abwege. Denn manche Wikipedia-Einträge sind merkwürdige Fantastereien oder (absichtlich) fehlerhaft (Guttenberg-Fall).
Selbst Insider:innen plädieren deshalb dafür, sie nicht direkt zu zitieren, sondern sie eher als „Roadmap“ zur weiteren Recherche oder als ein „Clearinghouse“ für Quellen zu nutzen. Diese Empfehlung soll laut dem American Journalism Review auch Wikipedia-Gründer Jimmy Wales selbst einmal geäußert haben.
Exklusives Spezialwissen bietet WP allerdings nicht. Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat bereits im Jahr 2012 vor einer „schleichenden Wikipedisierung“ des Journalismus gewarnt und geschrieben: „Der Journalismus büßt seinen Wissensvorsprung ein, wenn er sich in einer Enzyklopädie bedient, die jedem User offen steht.“
Fazit: Im schlechtesten Fall geben sich Journalist:innen mit dem eigentlichen Wikipedia-Eintrag als Quelle zufrieden. Im besten Fall nutzen sie die mit dem Beitrag verbundenen Quellen als Roadmap, als einen Fahrplan für tiefere Recherchen, oder für Gegenchecks ihrer anderweitig gefundenen Informationen.
Was sagen Insider zur Zuverlässigkeit von Wikipedia?
Für das Roadmap-Szenario plädiert auch Erik Möller. Der Journalist und Softwareentwickler engagierte sich ab 2001 als Autor und Entwickler für Wikipedia und ihre Schwesterprojekte. Er gehörte zu den Gründer:innen der freien Mediendatenbank Wikimedia Commons und des Nachrichtenportals WikiNews. Ab 2006 saß Möller im Vorstand der in San Francisco ansässigen Wikimedia Foundation und fungierte dort bis 2015 als stellvertretender Geschäftsführer. Heute ist er technischer Projektleiter bei der Freedom of the Press Foundation.
„Sicher haben viele Redaktionen die Regel, Wikipedia nicht als Quelle zu zitieren. Das macht auch Sinn, weil sie ja selbst keine Quelle ist, sondern andere Quellen aufarbeitet. Wenn man als Journalist:in Wikipedia referenzieren möchte, sollte man immer besser selbst die Quellen prüfen, die Wikipedia nutzt, um ein bestimmtes Faktum zu belegen. Also: Check my facts!“, sagt Möller.
Der Kölner Journalist Maximilian Schönherr schließt sich dieser Einschätzung an. Er ist gleichzeitig Autor und journalistischer Nutzer von Wiki-Angeboten. Seit 30 Jahren arbeitet Schönherr für die Wissenschaftsredaktion des Deutschlandfunks und war zudem bereits beim Zündfunk des Bayerischen Rundfunks und beim WDR aktiv. Als Autor schreibt er seit 2007 für Wikipedia. „Wer Wikipedia kennt, der weiß, dass man den Artikeln misstrauen und stattdessen auf die Quellen unter den Beiträgen schauen sollte. Das mache auch ich genauso – ich schaue mir immer die Quellen an“, berichtet Schönherr.
Bereits im Jahr 2008 wurden in dem hier bereits erwähnten Beitrag des American Journalism Journal die Vorbehalte gegen den journalistischen Einsatz von Wikipedia in (US-amerikanischen) Medienhäusern ausführlich thematisiert. Noch heute sieht man in journalistischen Beiträgen selten die Quellenangabe „Wikipedia“.
Wird WP in der redaktionellen Realität häufig genutzt, aber selten als Quelle zitiert? Erik Möller bestätigt das indirekt. „Eine Ausnahme sind die Google News. Dort werden sie Wikipedia öfter als Quelle bemerken“, sagt Möller und fügt hinzu: „Wikipedia und Wikimedia Commons profitieren ja selbst davon, dass ihnen Menschen ihre Materialien unter einer freien Lizenz kostenlos zur Verfügung stellen. Diese werden dann aber leider oft auch ohne Quellenangabe weiterverwendet.“
Missbrauch und Manipulationen
Fälle von mutmaßlichem Missbrauch und gezielter Desinformation gehörten schon immer zu den Baustellen in der Wiki-Landschaft. Einträge wurden manipuliert und falsche Sachverhalte wurden von Medien übernommen und weiterverbreitet. Besonders in der Frühphase der Wiki-Angebote wurde das intensiv öffentlich thematisiert und galt einigen auch als Beleg für die journalistische Fragwürdigkeit einer Arbeit mit Wikimedien. Auch wenn die Wiki-Macher:innen solche Fälle immer wieder aktiv und offen adressierten.
Auf konkrete Fälle angesprochen erinnert sich Journalist und Wikipedia-Autor Maximilian Schönherr an verschiedene Beispiele. „Ich weiß, dass Presseabteilungen, etwa die des Bayerischen Rundfunks, in Wikipedia-Artikel eingegriffen haben. Das machte an manchen Stellen aber auch Sinn, weil die einfach bessere Kenntnisse über bestimmte interne Sachverhalte hatten“, sagt Schönherr.
In anderen Fällen gingen solche Eingriffe nach hinten los. Etwa bei einem Wikipedia-Eintrag über Zwangsarbeit bei Daimler-Benz. Diese brisante Episode der Firmengeschichte war Stück für Stück aus dem Wikipedia-Beitrag über Daimler-Benz „herausgeschrieben“ worden. „Eine Kontrolle der IP-Adresse zeigte damals, dass dieses Redigat vom Anschluss der Daimler-AG in Stuttgart vorgenommen worden war. Die direkte Konsequenz dieser Enthüllung war damals eine wahre Explosion von Beiträgen über die Zwangsarbeiter:innen bei Daimler. Wir haben bei Wikipedia dann eine spezielle Site über bezahltes Schreiben aufgesetzt, an der ich auch mitgearbeitet habe“, erinnert sich Schönherr.
Wikimedia Commons: ein Angebot mit klarem journalistischem Mehrwert
Hohen Nutzwert bietet Journalist:innen die mit Wikipedia verwandte Mediendatenbank Wikimedia Commons. Sie bietet Zugriff auf inzwischen mehr als 11 Millionen frei verwendbare Bilder, Videos, Audiofiles und 3D Modelle. Aktuell haben sich mehr als 13 Millionen Nutzer:innen dort registriert. Auch die in diesem Artikel gezeigten Fotos der Interviewpartner Möller und Schönherr stammen aus Wikimedia Commons.
Maximilian Schönherr berichtet, dass er selbst gerade alte Audio- und Videomitschnitte digitalisiert und auf Wiki Commons hochlädt, von wo sie auch zu Wikipedia hinüberwandern.
Allerdings wird die korrekte (nicht nur journalistische) Verwendung und Bezeichnung freier Wikimedia Commons oft schlecht umgesetzt. Erik Möller ist sie aber ein Anliegen. „Wenn Sie zum Beispiel ein Bild von Wikimedia Commons nutzen, das dort unter einer Creative Commons Distribution Share Alike-Lizenz (CC-BY-SA) steht, dürfen Sie es unter Nennung des Lizenzgebers und der Lizenzform nutzen. Sie müssen nicht unbedingt Wikimedia nennen. Den Urheber sollten sie aber nennen – das machen viele falsch“, beklagt Möller.
Weitere Tools für die journalistische Arbeit im Wikiversum
Inzwischen gibt es zahlreiche Wikimedia Apps, inklusive der mobilen App, die aber nicht speziell für Journalist:innen kreiert wurden.
Hilfreich für die Zielgruppe sind Apps und Zusatzprogramme, die sich mit Wikimedia verknüpfen lassen. „,Zotero – Your personal research assistant‘ zum Beispiel wurde ursprünglich für den akademischen Bereich entwickelt, wird aber inzwischen auch intensiv von Journalist:innen eingesetzt. Man kann damit sehr gut eigene Bibliografien und Quellensammlungen anlegen und verwalten und auch Materialien aus Wikipedia und Wikimedia Commons importieren“, berichtet Entwickler und Journalist Erik Möller.
Wikinews: Kann Wikipedia auch Journalismus?
Mit den Wikinews starte Wikimedia vor 20 Jahren das Experiment eines eigenen Nachrichtenangebots, das ebenfalls nach dem Prinzip der freien Autorenschaft arbeiten sollte. Spiegel Online orakelte unmittelbar nach seinem Start: „So, wie sich Wikinews anlässt, wird daraus allenfalls eine Konkurrenz für automatisierte Sammelseiten wie Yahoo-News, juristisch nur schlechter abgesichert.“
Tatsächlich ist auch Erik Möller, der selbst an der Wikinews-Entwicklung beteiligt war, eher vorsichtig in seiner Einschätzung des Angebots. Wikinews sei der Versuch gewesen, das Wiki-Prinzip auf aktuelle Nachrichten zu übertragen. Aber es sei immer schwierig gewesen, eine kritische Masse freiwilliger Autor:innen zu finden.
„Wenn auf Wikipedia ein Dreizeiler, sagen wir mal zu einer Stadt, entsteht, dann ist das ein guter Anfang, der dann über Monate weiter ausgearbeitet werden kann. Bei einem journalistischen Angebot ist ein Dreizeiler aber womöglich kein interessanter Beitrag. An journalistische Beiträge hat man einfach andere Erwartungen. Weil es bei Nachrichten Deadlines gibt, ist es schwieriger, sie nach dem Wiki-Prinzip aufzuarbeiten. So ist Wikinews ein kleines interessantes Projekt, hat aber nie wirklich abgehoben“, zieht Möller Bilanz.
Warum sammelt Wikinews nicht auch externe Beiträge ein, die bereits unter Creative-Commons-Lizenz publiziert wurden und deshalb wiederverwendet werden dürften? So veröffentlicht zum Beispiel die Berliner Zeitung auf ihrer „Open Source“-Seite auch Beiträge unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Die sucht man allerdings vergebens bei Wikinews.
„Tatsächlich macht Wikinews das aber auch. Hier in den USA beinhaltet das Angebot auch Regierungsinhalte, die immer unter einer Public Domain veröffentlicht werden müssen. Ebenso die Beiträge des staatlichen Auslandssenders Voice of America, die im Gegensatz zum Programm zum Beispiel der BBC gemeinfrei veröffentlicht werden müssen. Solche Inhalte finden Sie durchaus bei Wikinews“, betont Erik Möller.
Wiki loves broadcast – öffentlich-rechtliche Beiträge für das Wikiversum
Öffentlich sichtbarer und deutlich spektakulärer als der eigene Nachrichtenkanal Wikinews wirkt das Projekt Wiki loves Broadcast (WLB). Dabei arbeitet die Wikipedia-Community mit den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zusammen und holt vor allem TV-Beiträge der Rundfunkanstalten ins Wikiversum, insbesondere in die Wikipedia. Das Projekt läuft in Kooperation mit Wikimedia Deutschland und das ZDF stellt dafür zum Beispiel Inhalte seines Formats Terra X zur Verfügung.
Für Erik Möller sind solche journalistischen Kooperationen nur konsequent. „Die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland werden ja unter anderem auch von der Öffentlichkeit finanziert. Deshalb sollten sie ihre Inhalte auch gemeinfrei stellen und allgemein zugänglich machen – auch über Wikipedia und Wikimedia. Dass solche Inhalte immer wieder depubliziert werden, also regelmäßig aus den Mediatheken gelöscht werden (müssen), finde ich eigentlich skandalös“, sagt er.
Als Journalist:in für die Wikipedia schreiben
Maximilian Schönherr ist gleichzeitig Fachjournalist und Wikipedia-Autor. Wie „journalistisch“ schreibt er für die freie Wissensdatenbank? Orientiert er sich stilistisch zum Beispiel an seinen Deutschlandfunk-Moderationen?
„Natürlich nicht. Ich schreibe meine Wikipedia-Artikel überhaupt nicht ,journalistisch‘. Trotzdem höre ich öfter, dass sie sehr feuilletonistisch seien. Das verstehe ich dann als Kompliment. Meine journalistischen Beiträge für den Deutschlandfunk schreibe ich auf meine Stimme hin, denn ich lese sie ja auch selbst am Mikro vor. Das ist etwas anderes als ein archivarischer Beitrag, den ich für die Wikipedia über historische Automobile im London des frühen 20. Jahrhunderts schreibe – das wird dann ziemlich trocken“, sagt Schönherr.
Fazit
Das Recherchieren bei Wikipedia und ihren Schwesterprodukten verspricht echten journalistischen Mehrwert. Allerdings nur, wenn man sich weniger auf die Einträge selbst beschränkt und stattdessen die Quellen zu den Artikeln selbstständig weiterverfolgt und auswertet. Aus den Wikipedia-Beiträgen selbst zu zitieren, bleibt weiterhin journalistisch fragwürdig.
Die Mediendatenbank Wiki Commons birgt reichhaltige Materialschätze, etwa historische Aufnahmen wichtiger Zeitgenoss:innen, Gebäude und Ereignisse. Das korrekte Zitieren in der Creative-Commons-Konvention sollte man aber unbedingt beachten.
Zudem gibt es mittlerweile die oben genannten Apps und Zusatzprogramme, die beim Recherchieren mit Wikimedia unterstützen. Und nicht zuletzt sorgen die „neuen“ Kooperationen zwischen Wikimedia und den öffentlich-rechtlichen Sendern, dass zahlreiche Medien ins Wikiversum eingespeist werden und dort journalistisch genutzt werden können.
Titelillustration: Esther Schaarhüls.
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Der Autor Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische und digitale Medien. Anfangs für Tageszeitungen, z.B. die taz und den Berliner Tagesspiegel und inzwischen vorwiegend für Fachmagazine. Für den Fachjournalist, das Medium Magazin und Menschen Machen Medien verfolgt er die digitale Transformation der Medien, stellt neue Berufsprofile vor und schreibt Service-Beiträge für Medienschaffende.