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Fotojournalismus: „Man kann nicht alles nur mit Stockfotografie oder KI erzählen“

Interview mit Gilles Steinmann, Leiter der Bildredaktion der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).

Hat Bildjournalismus in Zeiten von frei im Internet verfügbaren Fotos und generativer KI, die die Geschichten dazu produziert, noch eine Chance? Der langjährige NZZ-Fotoredakteur Gilles Steinmann nimmt dazu Stellung und gibt angehenden Bildjournalist:innen Tipps zur Gestaltung ihrer beruflichen Zukunft. Zudem gibt er im Fachjournalist Einblicke in die Auswahlprozesse und Veränderungen des World Press Photo Awards, bei dem er 2024 Jury-Mitglied war. 

Sie sind langjähriger NZZ-Fotoredakteur und waren 2024 auch Jury-Mitglied beim renommierten World Press Photo Award. Gab es letztes Jahr unter den zahlreichen Einreichungen regionale oder thematische Schwerpunkte?

Ich war Mitglied der regionalen Jury Europa, zusammen waren wir fünf Juroren. Natürlich war als Land die Ukraine sehr stark vertreten, sodass sich die Frage stellte, wie wir für die europäischen Ereignisse aus dem Jahr 2023 einen relevanten Mix finden konnten.

Man muss dazu wissen, dass für Europa am meisten Bilder eingereicht wurden, allein rund 15.000 Einzelbilder, dazu etwa noch 1.000 Fotoserien sowie viele Langzeitprojekte. Für die Auswahl hatten wir zwei Wochen Zeit, um eine Shortlist aus den verschiedenen Kategorien an die Global Jury zu übermitteln. Wir haben also auch geschaut, was ist 2023 in anderen europäischen Ländern passiert und was könnte davon relevant sein. Darunter war zum Beispiel ein Langzeitprojekt von Daniel Chatard über die Proteste gegen den Braunkohletagebau im deutschen Lützerath, ein Thema, das damals sehr lange in den deutschsprachigen Medien präsent war. Und Johanna-Maria Fritz hat eine Fotoserie aus der Ukraine eingereicht und damit einen Preis gewonnen.

Inhaltlich mussten wir in der Jury verschiedene Facetten berücksichtigen, darunter natürlich die Fotoqualität, aber auch weitere Schwerpunkte wie Themenwahl, Relevanz, Storytelling, journalistisches Handwerk und Präsentation einer Fotoserie. Gerade die Reihenfolge der gezeigten Serienfotos kann eine große Wirkung erzielen und die Entscheidung der Jury maßgeblich beeinflussen.

Welche besonderen Entwicklungen und Veränderungen konnten Sie im Laufe der Jahre beim World Press Photo Award feststellen?

Neu ist, dass World Press Photo vor ein paar Jahren die Kategorien geändert hat; sie gruppiert die Jurys auf die einzelnen Kontinente. So fällt auf, dass Bilder aus den Sparten Sport oder Umwelt kaum mehr gewinnen.

Vor der Corona-Epidemie war die Veranstaltung immer ein lebhaftes Netzwerken mit Einladungen von Fotografen und Bildredakteuren zur Preisverleihung nach Amsterdam. Im Lockdown lief dann alles lediglich remote. Heute gibt es nur noch eingeschränkte Einladungen.

Und KI ist aktuell natürlich ein Riesenthema. Auch beim Factchecking hat man wohl viel dazugelernt. Sobald die Shortlist mit den Favoriten steht, werden die RAW-Files der Bild-Frames vorher/nachher angefordert, um jegliche Manipulationen auszuschließen. Auch die Bilder selbst und die Caption werden heute viel genauer überprüft. Früher wurden Preise nachträglich aberkannt, wenn später eine Manipulation festgestellt wurde. Das möchte man natürlich verhindern, denn die Qualität der prämierten Fotos ist ja ein Gütesiegel für diesen Wettbewerb. Und der Einsatz von KI ist beim World Press Photo Award komplett untersagt.

In den publizistischen Leitlinien der NZZ haben wir übrigens den Umgang mit KI definiert. So ist ein KI-generiertes Bild in einem fotorealistischen Stil nicht erlaubt.

Wie kann man sich die Sichtung und den Auswahlprozess der vielen eingereichten Fotos beim World Press Photo Award vorstellen? Spielen berühmte Fotografennamen oder große Agenturen im Hintergrund eine Rolle?

Nein. In der ersten Runde der Jury erfährt man keine Namen, erst ganz zum Schluss in der Endrunde. Wir haben uns also ganz auf die fotojournalistische Qualität der eingereichten Arbeiten fokussieren können.

Ich habe aber einmal als Jury-Mitglied beim Swiss Photo Award den Fall gehabt, dass über das Bild eines namentlich bekannten Redaktionskollegen abgestimmt werden sollte. Ich habe mich dann der Stimme enthalten und das wurde auch von den anderen Jury-Mitgliedern akzeptiert. Man sollte sich in diesem Fall seiner Verantwortung bewusst sein und auf die eigene Integrität achten.

Welche Motive beeindrucken Sie noch auf Anhieb nach all den Jahren Berufserfahrung in der Fotoredaktion und als Jury-Mitglied bei vielen Fotowettbewerben? Was muss ein gutes Bild ausmachen, damit Sie sich angesprochen fühlen?

Es gibt Bilder, die vergesse ich nicht, wie etwa vor einigen Jahren dieses Foto von Aylan, dem dreijährigen Flüchtlingsjungen, der am Strand in Griechenland lag. Oder das Foto von Donald Trump, wie er nach dem Anschlag auf ihn seine Faust entschlossen in den Himmel gereckt hat. Bei diesen ikonenhaften Bildern erkennt man sofort die Kraft, die dahintersteckt.

Stillere Bilder benötigen dagegen mehr Zeit zum Betrachten, bevor man die Botschaft oder Geschichte dahinter entdeckt. Stillere Bilder sind daher oft besser in einer Serie zu veröffentlichen, nicht als Einzelbild.

Der Konkurrenzdruck unter den vielen Fotografen ist groß. In der Vergangenheit gab es bei einigen prämierten Fotos immer wieder Diskussionen über extreme Bildbearbeitung oder gar gestellte Motive. Wie ging Ihre Jury beim World Press Photo Award mit dieser Problematik um?

Diese Herausforderung stellte sich unserer Jury seinerzeit nicht. Aber ich begegne dieser Problematik immer mit großer Vorsicht und suche dann den Dialog mit unserem Team. Das Vier-Augen-Prinzip ist oftmals hilfreich, denn auch im Redaktionsalltag müssen wir oft schwierige Entscheidungen bei der Bildauswahl treffen. Ist etwas voyeuristisch oder sollte das der Öffentlichkeit gezeigt werden? Wie gehen wir mit Leichenfotos um? Welche Bilder bedienen vielleicht bestimmte Interessen oder sind gar Propagandafotos?

Wenn Personen direkt in die Kamera blicken, bin ich eher vorsichtig. Will der Fotograf hier vielleicht eine versteckte Botschaft transportieren? Wie unabhängig ist so eine Aufnahme? Anteilnahme und Nähe lassen sich auch anders fotografisch umsetzen. Ein guter Fotograf sollte unsichtbar sein und nicht Teil des Geschehens.

Wir sind mit konfrontativen Bildern sehr umsichtig. Es gibt aber Momente, die wir zeigen müssen. Das Massaker von Butscha in der Ukraine ist ein Beispiel.

Wie bewerten Sie den Stellenwert des Fotojournalismus in der heutigen Zeit der Bilderflut und der sinkenden Honorare? Hat diese Art der visuellen Berichterstattung eine Zukunft?

Ja! Man kann nicht alles nur mit Stockfotografie oder KI erzählen. Man muss erfahrene Fotografen vor Ort haben, um etwa Ereignisse wie den Umsturz in Syrien zu dokumentieren. Das hat für mich nach wie vor einen hohen Stellenwert, auch wenn natürlich die Zeiten für viele Fotografen schwerer geworden sind. Aber wir sind auf Fotojournalisten angewiesen und honorieren dies entsprechend.

In den 1980er-Jahren konnten Fotojournalisten noch bezahlt drei Monate für Auftragsarbeiten unterwegs sein, das ist leider vorbei. Unsere Fotoredaktion prüft heute sehr genau, für welche Geschichten wir einen eigenen Fotografen entsenden oder ob wir uns auf Bilder von Nachrichtenagenturen wie AP oder Reuters stützen.

Welche Ansätze der Entwicklung einer neuen Bildsprache und von Storytelling verfolgen Sie aktuell als Fotoredakteur bei der NZZ? Geht bei Ihnen auch der Trend zu online und Bewegtbild?

Unsere Devise lautet seit Jahren schon: Mobile first! Das hat natürlich auch Einfluss auf die Bildauswahl. Und wir arbeiten nicht nur mit Text und Foto, sondern auch mit anderen Werkzeugen, um unsere Geschichten zu erzählen.

Bei Artikeln zum Thema Fußball bietet sich beispielsweise auch das Einbinden eines Videos an, während an anderer Stelle ein Tool zur Visualisierung von Vorher-Nachher-Momenten sinnvoll sein kann. Auch Illustrationen und Collagen kommen zum Einsatz. Wir sind offen für alle Erzählweisen wie auch animierte Bilder, solange das passende Medium für eine Geschichte gefunden und unserem Qualitätsanspruch gerecht wird.

Unsere visuellen Redakteure haben dazu einen Style Guide definiert, der mit eigenen Farben zur NZZ passt und sogar für Personen mit Farbblindheit erkennbar ist.

Worauf achten Sie bei Bewerbungen von Fotografen, die eine Zusammenarbeit mit der NZZ suchen und sich bei Ihnen vorstellen möchten? Welche Art der Kontaktaufnahme bevorzugen Sie dabei? Was raten Sie jungen Bildjournalisten?

Ich bevorzuge eine Kontaktaufnahme per E-Mail, gern mit einem PDF-Dokument im Anhang, aus dem einschlägige Arbeitsproben hervorgehen. Ein Bild pro PDF-Seite, insgesamt je nach Geschichte 15 bis 20 Seiten im DIN-A4-Format. Bei Porträtbildern reichen auch fünf Seiten.

Diese Zusammenstellung der eigenen Best-of-Bild-Auswahl ist für viele Fotografen bereits eine große Herausforderung. Wichtig ist mir neben der Qualität eine persönliche Handschrift. Weniger ist mehr. Aber auch den Instagram-Kanal sehe ich mir gern an. Und auf der eigenen Website hoffe ich, eine Handynummer zu finden.

Ich achte auf die fotografischen Fähigkeiten, ob jemand seine Portraitaufnahmen im Griff hat oder mit verschiedenen Lichtsituationen arbeiten kann. Wie jemand in Stresssituationen mit der Kamera reagiert. Und für Auftragsarbeiten, bei denen unsere Korrespondenten mit einem neuen Fotografen oder einer Fotografin arbeiten müssen, ist natürlich ein absolutes Grundvertrauen sowie Teamgeist elementar. In Krisengebieten muss man einander beistehen können und auch unter schwierigen Bedingungen einander vertrauen. Und mich interessiert, ob ein Fotograf zu seinen Protagonisten Zugang finden kann. Wer Freimaurer oder Drogenschmuggler porträtieren kann, verfügt über das nötige Gespür, um Brücken zu Menschen zu schlagen. Kurz: Ich achte insgesamt darauf, wie jemand durchs Leben geht.

Für ein persönliches Kennenlernen sind daher diese vielen Fotofestivals wie Perpignan oder Arles ideale Orte, aber auch Events wie das Hamburg Portfolio Review, das jährlich im Oktober stattfindet. Eine teure Ledermappe mit Foto-Prints ist nicht erforderlich. Heute schaut man beim Lightroom-Meeting gemeinsam auf den Laptop, während die Fotografen etwas zur Entstehungsgeschichte der Bilder erzählen.

Auf Ihrem Instagram-Kanal zeigen Sie in Ihren Stories über Afghanistan, Jemen, den Gaza oder die Ukraine auch Bilder namhafter Fotojournalisten. Wie schafft man es als Fotograf, von Ihnen dort vorgestellt zu werden?

Das waren meine persönlichen Bestenlisten einiger Arbeiten mit fest angestellten oder auch freien Fotografen. Das ist wirklich nicht repräsentativ. Davon sollte sich kein neuer Fotograf abschrecken lassen.

Interview: Ralf Falbe.

Titelillustration: Esther Schaarhüls.

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).


Foto: Dominic Nahr.

Gilles Steinmann ist Leiter der Bildredaktion der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und der NZZ am Sonntag und seit fast 20 Jahren als Bildredakteur tätig. Er entwickelt neue Erzählformate für Print und Online, um einem breiten Publikum tiefgründige visuelle Reportagen zugänglich zu machen, und hat mehr als 250 Fotoserien veröffentlicht. Außerdem war er Jurymitglied bei nationalen und internationalen Fotowettbewerben, darunter World Press Photo.

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