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Serienkritik zu „In Vogue: The 90s“ – Ein Modemagazin im Glanz von gestern

Die sechsteilige Doku-Serie „In Vogue: The 90s“ wirft einen stimmungsvollen Blick auf die Macht der Mode und des Modejournalismus in den 1990er-Jahren – und bietet trotz mangelnder Selbstkritik Erhellendes.

Hochglanz-Modestrecken, Paparazzi-Schnappschüsse von Pop-Ikonen und Schauspielstars, aufsehenerregende Laufsteg-Momente: Es war abzusehen, dass eine Dokumentation, die sich den 1990-Jahren als einem besonders prägenden Modejahrzehnt widmet, auf einen reichhaltigen visuellen Fundus zurückgreifen würde. Doch der sich in Höchstgeschwindigkeit vollführende Bilderrausch zu Beginn der sechsteiligen Doku-Serie In Vogue: The 90s überfordert dennoch kurz das aufmerksame Auge. Neben sorgsam kuratierten Archivaufnahmen kommen diverse Design-Größen aus der Modeindustrie (darunter Miuccia Prada, Tom Ford, Marc Jacobs), die Schauspielerinnen Gwyneth Paltrow und Nicole Kidman sowie Musikerinnen wie Missy Elliott hier in Gesprächsausschnitten zu Wort, um das Modemagazin Vogue in höchsten Tönen zu loben.

Der US-amerikanische Modedesigner Marc Jacobs in „In Vogue: The 90s“ im Interview. Foto: Disney+

Zu einem kurzen Stillstand kommt diese Ouvertüre erst, wenn Anna Wintour, langjährige Chefredakteurin der US-amerikanischen Vogue und seit 2020 zudem als Global Chief Content Officer von Condé Nast verantwortlich für alle Lifestyle-Magazine des Verlags, im wohlgestalteten Interviewraum Platz nimmt. Das kurze Innehalten ist angebracht, denn, so bringt es die langjährige Moderedakteurin Tonne Goodmann klar auf den Punkt: „Anna Wintour ist Vogue. Und Vogue ist Anna Wintour.“

Die personifizierte Vogue

Von welch immenser Bedeutung die 1990er-Jahre für Anna Wintour waren, fokussiert In Vogue: The 90s danach im Schnelldurchgang: 1988 übernahm die aus Großbritannien stammende Wintour die Chefredaktion der US-Vogue von ihrer Vorgängerin Grace Mirabella. Dabei lässt die Dokuserie aus, dass dem ein großes Stück Magazingeschichte vorausgegangen war: Die Vogue wurde 1892 vom Unternehmer Arthur Baldwin Turnure als wöchentlich erscheinendes Lifestyle-Magazin in New York City gegründet. Mit der Übernahme durch Verleger Condé Montrose Nast wurde die Vogue ab 1909 in ein monatlich erscheinendes, an Frauen gerichtetes Modemagazin umgewandelt, das weltweit expandierte und – keine Selbstverständlichkeit in jener Zeit – auch von Frauen geleitet wurde. Lange vor Wintour, Mirabella und den weiteren bekannten Vorgängerinnen Diana Vreeland und Jessica Daves führte Edna Woolman Chase das Magazin ganze 37 Jahre lang (von 1914 bis 1951) als Chefredakteurin an. Dichtauf folgt die heute 74-jährige Wintour mit einer nun 36-jährigen Amtsperiode.

Ihr Amt begann Anna Wintour mit einer bewussten Abwendung von der von Vorgängerin Grace Mirabella etablierten gediegenen Eleganz, wie es in In Vogue: The 90s, dargestellt wird. Wintour strebte eine weitreichende Auffrischung des Magazins an. So brachte sie in der ersten von ihr verantworteten Magazinausgabe ein lachendes junges Model in Jeans und buntem Oberteil auf das Cover, das zu Mirabellas Zeiten noch mit edlen Porträtfotos in Nahaufnahme aufwartete. Der erste große Coup gelang Wintour aber, als sie 1989 eine junge Frau namens Madonna, damals schon kurz vor dem internationalen Durchbruch, für eine Fotostrecke und das Titelblatt gewann. Als „Vermählung von Vogue und Popkultur“ bezeichnete einer ihrer Weggefährten diesen eher ungewöhnlichen Schritt Wintours – schließlich hatte die Vogue diese Ehre bis dato ausschließlich für den traditionelleren Glamour von Schauspielikonen wie Audrey Hepburn und Grace Kelly reserviert. Doch Wintour, so wird in diesen kurzen Abschnitten zu ihren ersten gewagten Entscheidungen als Chefredakteurin vermittelt, hat einen untrüglichen Blick für die Vorzeichen des Brandaktuellen.

Modemagazine als Seismografen eines wankelmütigen Zeitgeists

Dementsprechend werfen die weiteren Folgen dieser Doku-Serie einen Blick auf die aufsehenerregendsten, von der Vogue sowohl aufgespürten als auch angekurbelten Trends der 1990er-Jahre.

Bis heute ist sie weltberühmt: Naomi Campbell gehörte zu den Models, die in den 1990er Jahren zu internationalen Stars wurden und es auf die Cover der „Vogue“ schafften. Foto: Disney+

Das Jahrzehnt beginnt aus diesem Blickwinkel mit dem Erscheinen sogenannter „Supermodels“ auf der Bildfläche der öffentlichen Wahrnehmung: Naomi Campbell, Cindy Crawford, Linda Evangelista und Christy Turlington werden durch ihre Laufstegauftritte und Fotoshootings zu international gefeierten Bekanntheiten, die es nicht nur auf die Cover der Vogue schaffen, sondern auch ins Musikvideo zu George Michaels Song „Freedom“. Doch jeder Trend dieses doch recht bewegten Jahrzehnts beschwört, so scheint es in In Vogue: The 90s, bald einen Gegentrend hinauf. In diesem Fall folgt auf die perfekte Fassade der Top-Models und den von ihnen präsentierten cleanen Chic der raue, glanzlose und anti-luxuriöse Grunge-Stil der Generation X. „Anna war entsetzt“, lässt Hamish Bowles, ihr langjähriger Redakteur und Weggefährte, uns wissen. Nichtsdestotrotz verleibte sich auch die Vogue den Stil dieser jeglichen Glamour verachtenden Anti-Bewegung in einer ausladenden Fotostrecke ein.

An dieser Stelle wie auch in anderen Passagen der Doku-Serie wird indirekt die Rolle der Modemagazine in den 1990er-Jahren reflektiert: Sie dienten mit entsprechenden Korrespondenten in den damaligen westlichen Epizentren von Kunst und Kultur und einem exklusiven Zugang zu Mode-Events als Seismografen für das Aufkommen neuer Lebensgefühle und Stile. In Windeseile, so scheint es in der Nachbetrachtung dieser Serie, folgte auf den Grunge der alle brüskierende „Heroin-Chic“ mit seinen Konnotationen von Drogensucht und Selbstzerstörung. Doch zur Mitte des Jahrzehnts, nach überstandener Rezession und Tom Fords gefeierter Gucci-Show, konnte die Vogue schließlich erleichtert verkünden, dass der Glamour zurück sei.

Der Keim des Verfalls

Kurzweilig, amüsant und bisweilen erhellend ist der modefokussierte Rückblick von In Vogue: The 90s gestaltet, wenn auch viele hier aufgegriffene Aspekte der sich wandelnden Modeindustrie im Eilverfahren abgehandelt werden. Tiefgehende Analysen dazu, warum die 1990er-Jahre von vielen der hier zu Wort kommenden Agierenden zum äußerst optimistischen Jahrzehnt deklariert werden (und ob dies überhaupt zutrifft), erhält man in dieser von Vogue mitproduzierten Doku-Serie nicht – ebenso wenig wie eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Verfehlungen von Modemagazinen jener Zeit.

So wird das Aufkommen krankhaft untergewichtiger Models auf den Laufstegen und Zeitschriftentiteln zwar thematisiert, aber lediglich zur kurzen, bald überwundenen Laune der Trendmaschinerie erklärt, anstatt auf die Verantwortung der Blattmacherinnen für die Propagierung ungesunder Körperideale einzugehen. Viel lieber sonnen sich Anna Wintour und ihre einstigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in dem Befund, den bedeutendsten Design-Talenten der 1990er-Jahre zum Durchbruch verholfen zu haben, allen voran John Galliano und Alexander McQueen. Beide stammten aus der Arbeiterschicht und beeindruckten die Vogue-Redakteure mit wirklich innovativen Kreationen, die auch in der nostalgischen Rückschau dieser Doku-Serie weiterhin atemberaubend wirken.

Interessanterweise aber tragen die von dieser Dokumentation als große Errungenschaften der Vogue in den 1990er-Jahren präsentierten Entwicklungen der Modeindustrie schon den Keim dessen in sich, was in den allmählichen Abstieg der Relevanz von Modemagazinen münden sollte. So war etwa Alexander McQueen einer der ersten Designer, die ihre Modeschauen nicht nur einem elitären Kreis aus Moderedakteuren und Industriegrößen, sondern einem breiten Publikum öffneten: 2009 konnte die Schau zu seiner „Plato’s Atlantis“-Kollektion per Live-Stream verfolgt werden. Dies läutete eine Entwicklung ein, die heute mitunter als „Demokratisierung“ des Modemarkts bezeichnet wird: Das modeinteressierte Publikum ist seit der Digitalisierung und dem Aufkommen sozialer Medien nicht mehr auf die einst exklusiven Informationen von Modezeitschriften angewiesen, sondern kann sich über die digitalen Kanäle der Modemarken selbst informieren sowie Posts von unzähligen Mode-Influencern ansteuern. So befand Lauren Sherman, Redakteurin des Online-Magazins The Business of Fashion in einem Artikel von 2018, dass die Social-Media-Plattform Instagram das einzige Modemagazin sei, das im Moment zähle.

Modemagazine heute: zwischen vermessener Nostalgie und Reformversuchen

Den mittlerweile beobachtbaren rapiden Bedeutungsverlust von Modemagazinen thematisiert diese Doku-Serie in den ersten drei zur Sichtung vorab zur Verfügung gestellten Episoden nicht. Vielmehr ist In Vogue: The 90s auch als Produkt dieses Wandels zu betrachten: In einer Zeit sinkender Anzeigenerlöse bei Print-Magazinen hat die Vogue ihren Veröffentlichungsrhythmus inzwischen von zwölf Ausgaben im Jahr auf zehn reduziert und kontinuierlich in die Online-Präsenz samt Bewegtbild- und Audioformaten dieser Redaktionsmarke investiert. So ist dieser Doku-Serie bereits 2022 ein gleichnamiger Podcast vorausgegangen. Ende vergangenen Jahres wurde zudem verkündet, dass Condé Nast plant, fünf Prozent seiner Arbeitsplätze zu streichen. Doch nur wenige Monate darauf erwirkten die in einer Gewerkschaft organisierten Mitarbeiter von Condé Nast-Publikationen eine vorläufige Vertragsvereinbarung zur Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen – nachdem sie gedroht hatten, mit ihrem Streik die von Anna Wintour ausgerichtete Met Gala zu stören.

Hieran wird deutlich, dass sich nicht nur der Medienkonsum des Publikums seit den 1990er-Jahren erheblich gewandelt hat, sondern auch der Zeitgeist: Lohngerechtigkeit, faire Arbeitsbedingungen auch innerhalb der in Magazinen propagierten Industrien, gesellschaftliche Werte wie Inklusion und Diversität sind in der Zwischenzeit zu teils scharf debattierten Themen geworden. In Publikationen, die sich mit Mode und Style befassen, wurden sie nur zögerlich aufgegriffen– aber es gibt Beispiele: So brachte die deutsche Vogue unter Leitung von Kerstin Weng im Juni die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer auf das Cover. Für dieses Statement wurde sie zwar von verschiedenen Seiten gelobt, aber Laura Ewerts warf in ihrem klugem taz-Kommentar berechtigterweise auch die Frage auf, ab wann die politische Haltung zur „leeren Hülse“ verkomme.

Eine Antwort darauf liefert die erfahrene Modejournalistin Josephine Collins im 2023 erschienenen Buch „Insights on Fashion Journalism“. Darin sieht Collins die große Chance von Modemedien darin, aktivistische Journalisten zu beschäftigen, die „Mode lieben, aber die Modeindustrie in Bezug auf die Lieferkette, Diversität und den Umgang mit Menschen sowie das kaputte Geschäftsmodell in Frage stellen“.

Fazit

Man könnte meinen, dass diese gegenwärtigen Debatten bei der feierlichen Rückschau von In Vogue: The 90s nur störend wirken und deshalb auf einen Hinweis darauf verzichtet werden sollte. Doch bei aller nostalgischer Freude, die sich über die Heraufbeschwörung der Trends von vor 30 Jahren einstellt, will dann doch keine Wehmut aufkommen – zu schön bis beschönigend scheint dann doch das Bild, das von diesem Jahrzehnt, der damaligen Modeindustrie und der sich in elitärer Wonne wiegenden Vogue gemalt wird.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)

In Vogue: The 90s
Großbritannien, 2024. 6 Episoden à ca. 50 Min.
Koproduktion von Vogue Studios und Raw Entertainment
Ausführende Produzenten u. a.: Liesel Evans, Jonathan Smith, Helen Estabrook, Sarah Amos, Mark Guiducci, Agnes Chu
Zu sehen auf Disney+ seit dem 13. September 2024.
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=4xc9z6uxElU


Die Autorin Dobrila Kontić hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK) studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin, Film- und Serienkritikerin in Berlin.

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